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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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übriggeblieben. Und dabei hatte er mich noch wissen lassen, er sei bis zum Pfauenschwanz gekommen. Kannst du dir denken, wie mich danach verlangte, seine zurückgelassenen Arbeiten zu sehen? Eine Tragödie – eine Tragödie erster Ordnung. Da hast du das Böse. Doch nun kommt das Gute. Nicht nur, daß seine Wittib und seine Tochter uns ihm zuliebe freundlich aufnahmen, nein, es stellte sich heraus, daß er mir in seinem Testament ein Buch vermacht hatte. Das Gute! Und warte nur, bis du das Buch siehst, Margaret. Es enthält den Traum meines Lebens.«
    »Das Geheimnis der Geheimnisse? War er auch dahinter her?« Ich staunte nicht schlecht. Bruder Malachi legte den Finger auf die Lippen und lächelte.
    »Ein wunderbares Buch. Er hat mir einen Brief hinterlassen. Anscheinend hatte er sich vergeblich mit dem Buch abgemüht. Er konnte kein einziges Wort entziffern. Und so hat er es mir vermacht, mir, dem größten lebenden Meister unserer Kunst, und das zur Begleichung seiner Schulden und um mir bei meiner Suche nach dem Goldrubin zu helfen. Wer hätte das von diesem übellaunigen, abgünstigen, alten Geizkragen Thomas gedacht? Seine tödliche Krankheit muß ihn wohl geläutert haben. Seine Frau, die ich beim letzten Mal in Lumpen und schwer schuftend antraf, trug ein neues Kleid, und seine Tochter hatte eine Mitgift, und selbst ich – einst Hauptgegenstand seines Neides –, selbst ich war großzügig bedacht worden. Ah, so läutern wir uns, wenn unser letztes Stündlein geschlagen hat.« Bruder Malachi schob eine kurze Pause und ein frommes Gebet für Thomas' Seele ein und fuhr dann fort: »Aber – im Glück schon wieder etwas Böses. Der gesamte Text ist unlesbar. Was, so könnte man meinen, soll daran gut sein? Ich plane auf der Suche nach einem Übersetzer eine glanzvolle und geistig bereichernde Reise ins Ausland.«
    »Aber, aber – was wird aus Hilde? Und aus Eurem Haushalt?«
    »Ei, das ist nun das Beste von allem – wenn Ciarice in ihrer Notlage nicht zu uns gekommen wäre, dann könnte sie jetzt auch nicht Hildes Geschäft weiterführen und sich um Peter und den Haushalt kümmern.« Ich sah Hilde an, doch die wirkte hocherfreut, dann Ciarice, und auch die nickte, als ob schon alles abgemacht wäre. Draußen hatte der Regen aufgehört, und wir hörten, wie die Läden in den ersten Stockwerken aufgerissen wurden, um frische Luft hereinzulassen, und wie die Frauen den vertraulichsten Klatsch mit lauter Stimme über die morastige Gasse austauschten.
    »Meiner Theorie zufolge mußt du zunächst einmal dein Problem von allen Seiten betrachten«, sagte Bruder Malachi und sah mich dabei an. Er wirkte unendlich selbstzufrieden, denn jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, seine Theorie am lebenden Objekt auszuprobieren. Unter den feuchten Dächern schrillten die Stimmen. Irgendwo in der Gasse schnatterte eine Gans.
    Ich blickte auf meine Hände. Gregorys Goldreif steckte auf meiner linken und der kunstvolle Ring vom alten Master Kendall auf meiner rechten Hand. »Das erscheint mir ziemlich schwer; man hat meinen Mann für tot aufgegeben, und wenn ich ihn nicht wiederfinde, kommt er vielleicht wirklich um. Sein Lehnsherr will mich mit einem anderen vermählen, sein Bruder will mich wegen des Vermögens, das mir Master Kendall hinterlassen hat, umbringen, und ich habe kein Geld, um ihn freizukaufen. Wo also soll ich anfangen?«
    »Mir will scheinen, daß dir zwei Wege offenstehen«, sagte Bruder Malachi. »Einer ist leicht, einer ist schwierig. Beschäftigen wir uns zunächst mit dem leichten. Was fühlst du für ihn, Margaret?«
    »Was meint Ihr damit?« Ein ausgedehntes, unbehagliches Schweigen folgte.
    »Ich meine«, sagte Bruder Malachi, »ob du ihn liebst? Der einfachste Weg ist nämlich, eine Botschaft an den Hof des Herzogs zu schicken und ihm mitzuteilen, wo du zu finden bist.« Seine Augen blickten sehr schlau, wirkten ziemlich berechnend.
    »Malachi!« Mutter Hilde war empört.
    »Ich will keinen anderen Mann, falls Ihr das meint. Alle Welt scheint der Meinung zu sein, mehr braucht eine Frau nicht. Aber ich liebe nur ihn, und ich will ihn nicht aufgeben. Ach, wie ich mich nach ihm sehne! Was würde ich nicht darum geben, könnte ich ihn über Aquin nörgeln hören oder ihn in der Küche herumlungern sehen, wo er immer wie ein hungriger Wolf die Nase in alle Töpfe gesteckt hat. Er ist fortgegangen und als ein Anderer wiedergekommen, Malachi – hat nur noch von Ehre geschwätzt und wer wo sitzen und ob er sich

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