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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Dann helfen einem alle, und niemand tut einem was.«
    »Niemand tut Mama was. Sie ist hübsch. Sonst berührt Bruder Malachi die bösen Menschen mit seinem Zauberstab. Puff! Und schon sind sie Frösche.«
    »Woher hast du das?«
    »Von Sim. Er sagt, Bruder Malachi kann alles.«
    »Mama, du kommst doch bald wieder, ja?« Cecilys Stimme klang bänglich.
    »Na, klar doch«, piepste Alisons Stimmchen unter dem Hut, dann kletterte sie hoch und ließ sich auf das Bett plumpsen. »Mama vergißt uns nie. Sie bringt uns Geschenke und Süßigkeiten mit. Ich will ein neues weißes Pony und Haarbänder in fünf Farben, Mama. Nicht vergessen, Rot und Grün mag ich am liebsten. Braun nicht.«
    »Ja, ich bin so schnell wie möglich zurück. Vergeßt nicht, ich denke an euch und bete jede Nacht für euch, und seid schön brav bei Mistress Wengrave.«
    »Das – ist schwer«, verkündete Alison und sprang auf fetten Füßchen mit ihren gesteppten Wollpantoffeln auf dem Bett herum. »›Steh auf! Verneige dich! Ruhe jetzt! LEI-ser Alison!‹ Keiner kommandiert uns so herum!«
    »Stiefvater kommandiert uns noch mehr herum. Darin ist ihm keiner über«, berichtigte Cecily ihre Schwester.
    Bildete ich mir das ein, oder war Alison wirklich pummeliger als vor einem Monat? Cecily war schon wieder gewachsen. Unter ihrem Kleid lugten magere Beinchen hervor. Ich muß den Saum schon wieder auslassen, dachte ich. Einen Umschlag habe ich noch, ehe Alison das Kleid erbt. Vielleicht sollte ich Litze aufnähen, wenn ich den Saum für Alison wieder einschlage. Dann sieht es eher wie ein neues Kleid aus. Lieber Gott, Frankreich ist so weit. Angenommen, ich überlebe es nicht, wer schlägt dann den Saum für Alison ein? Wer weiß dann noch, daß sie keine geerbten Sachen mag, es sei denn, man hübscht sie für sie auf? Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Und schon stiegen mir die Tränen in die Augen, und ich schloß sie erneut in die Arme und sagte: »Ihr dürft keine Angst haben. Gottes Engel wachen über euch, während ich fort bin.«
    »Engel? Können die auch Wecken backen?« Alison, die sich so leicht ablenken ließ, setzte sich hin und spielte mit meinem Rosenkranz und sang dabei Backe, backe Kuchen.
    »Sorg dich nicht, Mama. Ich bin groß. Ich kümmere mich um Alison. Ich schaffe das schon.«
    »– Eier und Salz –«
    »Du bist Mamas tapferes, großes Mädchen. Denk daran, ich verlasse mich auf dich –«
    »– ich bin auch groß – Butter und Schmalz –« sang Alison.
    »Ich kann alles, was die Großen können. Alle erwachsenen Männer haben sich vor dem großen Pferd gefürchtet. Ich nicht. Ich bin darauf geritten! Ich schaffe das schon.« Cecilys Augen blickten ernst. Sie meinte jedes Wort.
    »Du weißt, daß ich lieber hierbleiben möchte, nicht wahr?«
    »Ja, du mußt weggehen. Ich weiß auch warum. Ich höre doch, was in den Ecken geflüstert wird, wenn sie meinen, ich verstehe das noch nicht. Übers Kloster, über den Prozeß und über die bösen Menschen, die uns die Mitgift wegnehmen wollen, die Papa hinterlassen hat. Du kommst doch zurück, ja? Und dann ist alles gut?«
    »Ja, natürlich. Und Master Wengrave ist euer Pate und Papas lieber Freund. Ihr wißt, daß ihr hier sicher seid, und er will nur euer Bestes.«
    »Ich weiß.« Cecily rieb sich heftig die Augen. Sie war erwachsen geworden – zu erwachsen für ihr Alter. Doch zuweilen läßt sich derlei nicht vermeiden.
    »– Milch und Mehl, und 'nen Scheffel Rosi-hinen«, sang Alison. »Gut, was? Das habe ich mir ausgedacht. Der Kuchen in dem Lied schmeckt sonst nicht gut genug.«
    »Ist das alles, woran du denken kannst – Essen?« sagte Cecily überheblich.
    »O nein. Ich denke, daß Mama zurückkommt. Das tut sie nämlich«, sagte Alison und blickte dabei ihre Schwester an, als ob die überhaupt nichts begriffen hätte.

Kapitel 8
    F ray Joaquin erreichte Brokesford Manor verdreckt und zornmütig, weil er eine ganze Woche mit der Suche nach diesem Hundeloch am Ende der Welt verloren hatte. Die Einheimischen waren Wilde: Wenn sie überhaupt Französisch konnten, dann eine abartige Variante des normannischen Dialekts, vermischt mit Brocken der eigenen Sprache. Fray Joaquins rollendes Provençalisch, das er gelegentlich mit einem spanischen Satz würzte, verstand hier niemand. Die Menschen pufften sich und zeigten mit Fingern auf ihn, wenn er nach dem Weg fragte. Schlimmer noch, sie brachen in schallendes, unhöfliches Gelächter aus. Er war es leid, sich die

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