Die Vision
Geist umwandeln könnte – der erhabenste Geisteszustand ist Weisheit, Margaret. Die Menschen würden weise werden – in Tausenden von Jahren könnte man eine Menge Weisheit ansammeln.«
»Könntet Ihr sie auch gut machen, Bruder Malachi?«
»Na ja, das vermutlich auch.«
»Dann seid Ihr nicht wirklich hinter dem Gold her. Das ist nebensächlich.«
»So nebensächlich wie nur etwas, Margaret. Wer braucht schon Gold? Gut – ich, für meine Experimente, und damit ich Fleischkuchen oder einen Winterumhang kaufen kann, und darum will ich zuvörderst Gold machen. Doch Gold ist nicht wirklich wichtig. Nein, nicht im mindesten.«
Ich blätterte wieder um und betrachtete die rätselhaften Bilder. Fast ganz zum Schluß kam das seltsamste Bild von allen. Ein von oben bis unten grüner Löwe verschlang die Sonne.
»Seht nur, Malachi, hier ist Euer Grüner Löwe. Was tut er da, er verschlingt ja die Sonne.«
»Der Grüne Löwe. Fast zum Schluß. Er ist das Symbol der Transmutation, Margaret. Er läßt sich nur sehr schwer herstellen. Ich habe auch davon ein wenig in einem Kolben. Es gibt eine Methode – die Methode in diesem Buch, wenn ich es erst einmal lesen kann, wie man ihn dazu bringt, daß er Sol verschlingt – na, das solltest du jetzt wissen – wer ist Sol?«
»Gold, nicht wahr? Dann nehmt Ihr also Gold, um Gold zu bekommen?«
»Der Grüne Löwe ist von den Tieren der Umwandlung das mächtigste – mächtiger noch als der Drache. Nur er kann die Sonne verschlingen, das edelste und das einzige unveränderliche Metall, um dessen Quintessenz freizusetzen – den Stein, das Rote Pulver oder Elixier der Transformation. Das ist die Seite mit dem Geheimnis der Geheimnisse, Margaret. Dort steht es – dort bei dem Grünen Löwen.«
Ich zog den Umriß des Grünen Löwen mit dem Finger nach. Er hatte etwas seltsam Anrührendes.
»Ich muß ihn haben, Margaret, genauso wie du deinen Gilbert wiederhaben willst. Wenn du mir also gestattest, deine Florin umzuwandeln, so können wir dich mitnehmen. Es liegt ein Schiff im Hafen, das nach Bayonne abgeht, sobald der Kapitän genügend Ladung hat, und das dürfte keine Woche mehr dauern. Gerade ausreichend Zeit für die Vervielfachung. O nein – ich brauche nicht alle zehn. Nimm die beiden Florin hier und kaufe dir Pilgermantel, Hut und Stab und was du sonst noch mitnehmen mußt. O ja, du wirst an Bord dein eigenes Kissen und Decken brauchen, und kaufe auch Zwieback oder sonstwie Haltbares, damit du nicht hungern mußt, wenn es nur noch Pökelfleisch gibt. Ob sich Master Wengrave derweil um deine Mädchen kümmert, was meinst du?«
»Als ob es seine eigenen wären.« Ich spürte, wie mir der Mut sank. Eine Wahnsinnsidee war das. Meine kleinen Kinder alleinzulassen! In die Fremde zu ziehen, wo es nur fremde Menschen gibt, gräßlich! Doch wenn es sein mußte, dann nur mit Malachi und Hilde. Malachi spricht so viele Sprachen. Außerdem hat er etwas an sich, daß er an fernen Orten wie eine Katze immer auf den Füßen landet, und das macht ihn zum idealen Reisegefährten. Ach, warum konnte Gregory sich nicht selber nach Haus begeben, wie es sich für einen anständigen Menschen geziemt? Einen Grund – es mußte doch einen Grund geben, warum ich nicht reisen konnte.
»Aber, aber – brauche ich denn keine Reiseerlaubnis vom Bischof?«
»Selbstverständlich – und die bekommst du auch. Schließlich schreibe ich jeden Tag Ablaßbriefe für den Papst. Ein Brief vom Bischof ist ein Klacks. Ei, ich dürfte doch irgendwo noch einen Gipsabdruck seines Siegels haben.« Er durchstöberte eine Schachtel und trieb mehrere Gipsabgüsse auf, die er von Dienstsiegeln abgenommen hatte, darunter auch die päpstlichen Siegel, die er im Ausland in Metall hatte gießen lassen. »Es wird ganz amtlich aussehen. Margaret – de Vilers, nicht wahr? – hat die Erlaubnis, sich auf eine Pilgerfahrt zu begeben. O ja, ich reise doch nie ohne einen Beutel voller prachtvoll aussehender Dokumente.« Dann wurde er meiner Miene ansichtig.
»Was ist los, Margaret? Du und Angst? Ich habe dich schon für viel weniger über glühende Kohlen gehen sehen. Sieh mich an – Ich fürchte mich zu Recht. Ich werde nämlich alt. Ich liebe meine Bequemlichkeit und meine Hilde und mein gemütliches Zuhause. Aber wenn ich kein Narr bin und nicht umsonst gelebt haben will, muß ich den Grünen Löwen verfolgen, wohin auch immer er mich führen mag, selbst bis in den Tod. Und du, du behauptest, du liebst Gilbert und
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