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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Wanzen aus den Kleidern zu suchen und nach einer elenden Nacht mit fünfzig Fremden seine Sachen zu packen, Fremden, die dicht gedrängt mit ihm in durchgelegenen Betten in einer Abfolge von elenden Herbergen schliefen. Am Ende hatte er einen Dorfpriester aufgetrieben, der ein paar Brocken Latein konnte. Es reichte gerade für die Messe und um ›ja‹ und ›nein‹ zu sagen und die Richtung anzugeben. Doch es war genug für die Information, daß er sich in der richtigen Gegend befand und daß Brokesford Manor einen halben Tagesritt gen Norden lag.
    Wie üblich in solchen Weilern erregte sein Pferd auch hier mehr Bewunderung als er selbst. Ein Berberhengst, ein Apfelschimmel, der auf Schnelligkeit gezüchtet worden war, mit gefälligen, stumpfen, arabischen Nüstern und den weit auseinanderstehenden, braunen Augen einer Frau. Er hatte sich daran gewöhnt, daß sich ein Kreis von Gaffern um ihn scharte und Bemerkungen über ihn machte, wo auch immer er ihn stehenließ, und er gab auf ihn Obacht, daß er ihm nicht gestohlen wurde. In der Regel reichten gefletschte Zähne und der mächtige Hirschhund, um sich die Leute vom Leibe zu halten. Schweine, die nichts als Ackergäule ritten, die hatten gut glotzen; jetzt merkten sie endlich, wie ein richtiges Pferd aussah. Fray Joaquin, einst Gestütsaufseher bei einem der elegantesten Äbte Kastiliens, ehe er in die Dienste des Sieur d'Aigremont trat, hatte ein gutes Auge für Zuchtmaterial – fast so gut wie sein Auge für hübsche Kinder. Also, diese englischen Pferde, das waren schlechte Züchtungen – doch die Kinder, die er gesehen hatte, waren recht niedlich. Hellhaarig und rosenwangig, so wie sie sein Seigneur am liebsten hatte. Schade, daß er wegen einer Frau unterwegs war, wo er leicht einige Kinder hätte mitnehmen können, doch Geschäft war Geschäft.
    Als er sich dem Herrenhaus näherte, fielen ihm die schweren Pferde auf der Koppel und im Pferch ins Auge. Nicht übel, gar nicht so übel. Der Mann kannte sich aus, doch in der Brust durfte seine Züchtung noch ein wenig tiefer sein und der Kopf etwas eleganter. Was der brauchte, war ein Berberhengst – auf Größe könnte man später noch züchten, erst einmal mußten die Anlagen stimmen. Eine kleine Gänsemagd hütete am Straßenrand ihre Schützlinge mit einer Gerte. Die barfüßige Kleine in dem eiskalten Herbstmorast war kaum so groß wie die Gänse. Unter einer groben Wollkapuze ringelten sich blonde Locken, und sie gaffte das fremde Pferd und den Reiter an. Fray Joaquins kundiger Blick sah ihre Rosenwangen und die großen, blauen Augen. Ja, jammerschade.
    Der Empfang im Herrenhaus war beinahe ungehörig zu nennen, doch schließlich konnte man vom sogenannten Adel eines derart rückständigen Ortes kaum anderes erwarten. Der Herr dieses baufälligen Schutthaufens von einem Haus schien sein Bett im Palas aufgeschlagen zu haben wie ein altehrwürdiger Herr aus einer jahrhundertealten Ballade. Freilich, als Ausrede diente ihm, daß seine Wunden ihn aufs Sterbelager geworfen hätten und er nicht die enge Wendeltreppe hinaufgetragen werden könnte. Aber war es nicht würdevoller, sich hochtragen zu lassen und mit Anstand zu sterben, als darauf zu beharren, in diesem Dreck weiterzuleben? Hmpf. Beim Anblick der von der Decke herabhängenden Schinkenseiten rümpfte Fray Joaquin insgeheim die Nase. Ein Wunder, daß sie in diesem Palas keine lebenden Hühner halten, dachte er. Das würde auch nicht weiter stören.
    Eine Menagerie von Hunden und Falken umgab den alten Lord hinter dem Wandschirm, wo er seinen Besucher an die Kissen gelehnt empfing. Eine Hündin hatte im Stroh unter dem riesigen Bett Welpen geworfen. Freilich, irgendwo drückte sich auch noch ein hohlwangiger Sohn herum, doch der schien ein ungehobelter Bauerntrampel zu sein. Er hatte seine aufgeputzte, junge Frau zur Tür geschickt, um Fray Joaquin zu begrüßen, und die hatte ihn brüskiert, noch ehe er seinen Auftrag loswerden konnte. Sie hätten bereits vornehme Gäste, hatte sie gesagt, und hoffentlich hätte er nicht noch mehr Leute mitgebracht. Fray Joaquin legte Wert auf den ihm gebührenden Empfang und war es nicht gewohnt, mit einem fahrenden Scholaren verwechselt zu werden. Als hochwohlgeborener Diener eines großen Herrn hätte er zur Begrüßung zumindest ein Fußbad erwarten können. Doch die Leute hier machten nicht den Eindruck, als hätten sie mit Baden viel im Sinn.
    Am schlimmsten allerdings kränkte ihn der alte Lord, der sich zu

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