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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Margaret, du bist ganz und gar ungerecht. Der Ozean inspiriert die Dichter. Außerdem ist es doch weiß Gott nicht schlimm gewesen. Ei, wir haben während der ganzen Überfahrt günstige Winde und ein Meer so glatt wie ein Badezuber gehabt. Und du hockst ewig unter Deck und weinst. Komm hoch und rieche die Seeluft. Besser noch, leiste Hilde und Sim und mir heute abend Gesellschaft, wenn wir die Sterne betrachten. Sie sind hier noch schöner als an Land.«
    »Sterne? Abend? Dann ist es ja dunkel. Angenommen, ich stolpere und falle über Bord? Oder angenommen, in der Dunkelheit kommt eine große Welle und spült mich wegen meiner Sünden von Deck? Alles nur Wasser, gräßliches Wasser mit Wellen, und ich kann nicht einmal schwimmen, und die Fische würden mich ganz auffressen, und ich habe meine Kinderchen verlassen, und – und – würde mir ganz recht geschehen – aaooo –« Und schon heulte ich wieder los, und dabei war Malachi so bezaubernd und beredt wie nur möglich. Natürlich machte ihm die Seefahrt nichts aus. Sein Gesicht blieb rosig, statt grün anzulaufen wie meines und das der anderen Pilger. Als mein angeblicher Beichtvater machte es ihm einen Heidenspaß, jedermann an Bord seinen geistlichen Beistand anzubieten, ganz gleich, ob er nun gefragt war oder nicht. Am Ende mußte Mutter Hilde eingreifen und er davon ablassen, denn die Vorstellung, sie könnte schallend loslachen und ihn damit verraten, trieb sie an den Rand des Wahnsinns.
    Doch selbst ich wurde wieder guten Mutes, als die langgezogene, graue Uferlinie am Horizont auftauchte und die Pilger sich an der Reling aufstellten und jubelten. Bald darauf segelten wir in die Mündung eines trägen, schlammigen, grünen Flusses mit wilden Dünen – alles herrliches, herrliches festes Land –, die sich zu beiden Seiten erstreckten. Langsam ging es den Adour hoch, bis wir um eine große Biegung kamen und in der Ferne in der hellen Herbstsonne am rechten Flußufer die dicken, gelben Steinmauern und die funkelnden Turmspitzen einer Stadt ausmachen konnten. Wir näherten uns dem Hafen und sahen über der Stadtmauer die gedrungenen, dräuenden Türme der Festung aufragen, deren gelbe Steinmauern nicht dazu passende niedrige, rosafarbene Ziegeldächer hatten, von denen die Wimpel des englischen Seneschalls und seiner Hauptleute flatterten.
    »Du liebe Zeit, das sieht mir aber gar nicht wie England aus, Malachi«, bemerkte Mutter Hilde mit zufriedener Miene.
    »Das spürt man auch – denn um diese Jahreszeit hätte die Sonne bei uns nicht soviel Kraft«, antwortete Malachi und streckte seine Gliedmaßen wie eine glückliche Pflanze, die ihre Blätter dem Licht entgegenreckt. Aber als ich sah, wie das Schiff vertäut wurde, wich meine ursprüngliche Freude, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, langsam einem bedrückenden Gefühl, das nicht einmal die Sonne vertreiben konnte. Ein stehender, kleiner Fluß, der nach Abfällen stank, schlängelte sich mühsam durch die Stadt, ehe er versuchte, sich im Hafen mit dem majestätischen Adour zu vereinen. Einige der Schiffe, die neben uns dümpelten, sahen mehr wie Kaperschiffe denn wie Kauffahrteischiffe aus. Dunkle, verboten aussehende Soldaten gingen auf dem Kai zwischen Kisten mit Gänsen und Warenballen auf und ab, mit denen man ein fremdländisches Schiff belud, und traten nach verdächtig aussehenden Gegenständen. Es gefiel mir gar nicht, wie sie über das ganze Schiff schwärmten, Landegebühren verlangten und uns mit dem abschätzenden Blick von Räubern musterten. Ein rauher Ort, soviel stand fest, diese Stadt zwischen Meer und Bergen. Und wenn das hier die beste war, wie war es dann wohl um die schlimmste bestellt?
    Wir erklommen die schmalen Straßen zur Kathedrale und mußten uns von Schweinen, beladenen Eseln und betrunkenen Söldnern anrempeln lassen, die uns den Weg versperrten. Rings um uns unverständliches Straßengebrabbel und Flüche; die Menschen gestikulierten; ein Gascogner wurde von jemand geschubst und zog sein langes Messer. Mein Gott, wie sollte ich Gregory wohl in einem Land voller feindseliger Fremder wie diesen hier wiederfinden?
    Doch als ich mit Hilde auf dem kleinen Platz vor dem Kathedralenportal verzweifelt auf unserem Gepäck hockte, tauchte Malachi aus dem dämmrigen Kirchenschiff mit einem kleinen Mönch im Schlepptau auf und war bester Dinge. Er hatte für uns in einer Pilgerherberge einen guten Raum gefunden. Diese quetschte sich zwischen die hohen Häuser der Rue

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