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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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mit einer Geschwulst am Kopf, zwei Priester, von denen der jüngere ein Schweigegelübde abgelegt hatte, und mehrere Mönche aus verschiedenen Orden – der letzte davon unser geschwätziger Bruder Anselm. Dauernd mußte er vor jedermann, den er erwischte, seine Gedanken ausbreiten, und so hörten wir in den Tagen vor unserem Aufbruch alles über die barbarischen Sitten der Navarresen, deren Sprache wie Hundegebell klingt und die einen Franzosen wegen seines letzten Hemdes umbringen würden.
    »Oh, das sind böse Menschen, diese Basken und Navarresen im Gebirge«, sagte Bruder Anselm dann wohl. »Das Liber Sancti Jacobi übertreibt durchaus nicht, wenn es sie häßlich und übelwollend, unehrlich, falsch und betrunken heißt.« Ich wünschte von ganzem Herzen, er würde gehen und jemand anders in Angst und Schrecken versetzen.
    Am Abend vor unserem Aufbruch stöhnte ich, als Bruder Anselm uns bei Tische fand und sich unaufgefordert zu uns setzte.
    »Ja, ja, Bruder Malachi, Ihr und die gute Frau hier und ihre alte Amme, Ihr werdet also zu Fuß gehen, ich jedoch reite von Ostabat an auf einem schönen Maultier nach Spanien hinein. Überlegt es Euch gut, ehe Ihr Euch wieder rühmt, der Schlauere zu sein.«
    »Ach? Wie das?« nuschelte Bruder Malachi mit vollem Mund.
    Bruder Anselm beugte sich vor und flüsterte: »Die beiden Priester da, die mit mir von Toulouse gekommen sind – der eine mit dem Schweigegelübde –, ich habe gehört, wie sie sich heimlich unterhalten haben. Und das kann ich Euch sagen – ich habe so meine Zweifel, ob sie überhaupt Priester sind, obwohl der alte Mann da von früh bis spät psalmodiert. Die tragen das gelbe Rad, doch das haben sie für die Reise abgelegt. Der junge – der ist eine Frau mit kurzgeschnittenem Haar. Vermutlich seine Frau. In Ostabat verrate ich sie für die ausgesetzte Belohnung und erstehe ein Maultier.«
    »Ei, wie schlau von Euch. Ich muß zugeben, dieses Mal habt Ihr mich geschlagen. Aber wir messen uns ein ander Mal, Bruder Anselm. Jetzt versucht Euch an diesem Rätsel –« Bruder Malachis Gesicht wurde keineswegs unfreundlicher, als er Bruder Anselm seinen ganzen Wein in den Becher goß und ihm gestattete, jedes Rätsel, das er kannte, zu lösen. Nachdem wir das rückgratlose Geschöpf schnarchend am Tisch gelassen hatten, sagte er förmlich und elegant: »Dame Margaret und Mistress Hilde, morgen brechen wir in aller Frühe auf, ich darf Euch also zu Euren Räumen geleiten.« Doch an der Tür gebot er uns Schweigen und befahl uns, die Tür zu verriegeln. Etwas später hörte ich ihn heimlich an die Tür klopfen und stand auf und ließ ihn ein, denn Mutter Hilde schlief fest.
    »Bruder Malachi, was habt Ihr draußen im Dunkeln gemacht? Man hätte Euch umbringen oder die Wache hätte Euch schnappen können«, wisperte ich grimmig. »Und was wäre dann aus uns geworden?«
    »Sie sind fort, Margaret, und ich schöpfe neue Hoffnung. Maulesel! Ha! Würde diesem Bruder Anselm ganz recht geschehen, wenn er zu Fuß bis ins Fegefeuer laufen müßte.«
    »Sie? Dann waren sie –«
    »Natürlich. Mann und Frau, und kein gelbes Rad weit und breit. In Ostabat hätte man ihnen einen schlimmen Empfang bereitet. Aber als sie mir erst glaubten, sprudelten sie nur so über von Informationen. ›Ihr könnt nicht zufällig Hebräisch?‹ fragte ich sie. ›Ich bin auf der Suche nach Abraham, dem Juden, dem berühmten Gelehrten, damit er mir ein sehr – hm – schwieriges, heiliges Buch übersetzt, das ich erworben habe.‹ Der Mann lächelte – das erste Lächeln an diesem Abend. »Abraham, der Jude? Der ist schwer zu finden. In Frankreich überhaupt nicht. O nein. Nicht mehr seitdem man die Juden beschuldigt hat, sie hätten die große Pestilenz verursacht und sie mit Feuer und Schwert vertrieben hat. Und Spanien? Dort auch nicht, da bin ich ganz sicher. Laßt Euch raten, geht nach Avignon. Dort haben die letzten Juden Unterschlupf gefunden. Papst Clemens höchstpersönlich hat zur Toleranz aufgerufen, und niemand hat das Edikt bislang aufgehoben. Geht an die päpstliche Universität zu Avignon und sucht Josceus Magister auf, denn der ist der größte Talmudgelehrte, der diesem Königreich geblieben ist. Eigenartig, nicht wahr? Der letzte Tempel im ganzen Land steht im Schatten des Papstpalastes. Wenn Josceus nicht mehr lebt, dann findet Ihr dort Gelehrte zuhauf. Viel Glück. Und nun Lebewohl, Bruder. Leider müssen Gertelotte und ich heute bei Dunkelheit reisen.‹ Jetzt

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