Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Mayour, und der Mönch war Bruder Anselm, welcher sich in der Gesellschaft des Abtes von Corbigny auf dem Weg nach Compostela befand.
    »Jetzt haben wir alles, was wir brauchen«, verkündete Malachi fröhlich, »und obendrein reisen wir noch mit einer bewaffneten Eskorte.«
    »Zehn stämmige, bewaffnete Mönche, ein halbes Dutzend Pilger, zwei davon Ritter, die unterwegs zu uns gestoßen sind«, verkündete Bruder Anselm, »und drei Mönche wie ich. Doch ich muß schon sagen, daß die Gebete der Heiligen gegen diese gottlosen, baskischen Räuber, von denen die Berge hier nur so wimmeln und die einen Menschen für einen halben sou umbringen würden, ganz zu schweigen davon, was sie Frauen antun, mehr wert sind als hundert Schwerter«, sagte er und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Aber Eurer Dame und Herrin passiert schon nichts. Was auch immer geschieht, ihre Seele ist des Himmels gewiß, wenn sie auf dem Weg nach Compostela in der Begleitung so heiliger Menschen den Märtyrertod erleidet.«
    Wie schön, dachte ich. Ein heiliger Märtyrertod. Das passende Ende für diese unselige Reise. Doch Bruder Malachi schien das überhaupt nicht zu stören, er machte sich auf den Weg, um unsere Seeausrüstung zu verkaufen und für den langen Marsch in die Berge Maulesel zu erstehen.
    Doch an diesem Abend kehrte er ganz staubig und mit leeren Händen in die Herberge zurück. »In der ganzen Stadt gibt es kein Maultier und keinen Esel mehr«, verkündete er beim Abendessen an dem langen Tisch im Gastraum der Herberge. »Die Gesunden haben die Engländer mit auf den Feldzug genommen, und die Lahmen sind im Frühsommer allesamt an Pilger verkauft worden. Leider werden wir zu Fuß gehen müssen.«
    »Und so dem Beispiel unseres Herrn nachfolgen«, unterbrach ihn Bruder Anselm, bekreuzigte sich und richtete unter blassen Brauen den Blick gen Himmel, den er gleich über den niedrigen, verräucherten Balken der Decke zu sehen schien. Er saß neben Bruder Malachi und uns gegenüber an dem Schragentisch vor dem Feuer. Bruder Malachis salbungsvoller Tonfall sagte ihm ungemein zu, und so schienen wir ihn denn auf Dauer am Hals zu haben. Er hatte uns bereits vieles anvertraut: Die Eiterbeulen, mit denen Gott ihn letztens zu Martini geschlagen hatte, der entfernte hochgeborene Vetter, den er hatte und der ihm eines Tages eine Anstellung beim Bischof von Pamiers verschaffen konnte, und die Sünden jeglichen Abtes von hier bis Byzanz, von denen er einen vollständigen Katalog hatte, die meisten davon jedoch zu pikant zum Wiederholen. Er war über Toulouse von Norden gekommen, wo er zur Pilgergesellschaft des Abtes in Richtung Spanien gestoßen war. Jetzt beugte er sich zu Bruder Malachi.
    »Also, der Abt von Corbigny, der nächtigt auf dem Chateau wie ein Herr, schlürft erlesenen Wein und ißt weißes Brot und geht, anders als wir bescheidenen Leute in der Herberge, auf einem weißen Maultier mit roter Satteldecke und Zaumzeug mit silbernen Glöckchen auf Pilgerreise. Klingeling, klingeling, klingeling, den ganzen Weg von Toulouse bis hier. Ach, meine wunden Füße! Während ich im Staub hinter ihm herhumpelte, sagte ich bei mir ›Als ob dir die Pilgerfahrt nach Compostela etwas nutzen würde, du Heuchler und Zöllner!‹ Aber Ihr wißt ja auch nicht, was ich über Corbigny weiß. Ei, die behaupten gar, die Reliquien des Heiligen Leonhard zu besitzen und haben vom Gelde der Leichtgläubigen einen riesigen Schrein gebaut und ihren Tisch mit kostbarsten Dingen bestellt, wo doch die echten Gebeine schon immer in Noblac gewesen sind. Oh, sie sollten rot werden vor Scham, diese Mönche von Corbigny! Da haben sie doch tatsächlich einen Mann zum zweiten Mal getauft, und der war obendrein noch tot!«
    »Du liebe Güte«, sagte Malachi, »ein Beschaffer von falschen Reliquien? Nicht zu fassen! Nein, wie schrecklich. Gott steh uns bei in diesen bösen Zeitläuften!« Und auch er bekreuzigte sich.
    Ich konnte einfach nicht weghören, obwohl Hilde und ich uns auf Englisch unterhielten, denn der kleine Klosterbruder sprach ein anständiges Französisch, die Sprache des Nordens, und nicht den unverständlichen, südlichen Dialekt, in dem rings um uns am Tisch gebrabbelt wurde. Zu den Schiffsreisenden waren weitere Menschen aus Häfen und Städten in Frankreich gestoßen, eine Gruppe Deutscher, darunter ein ältlicher Ritter mit seinem Sohn, und die, welche unter dem Schutz des Abtes und seines Gefolges reisten. Unter letzteren befanden sich ein Kaufmann

Weitere Kostenlose Bücher