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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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streckte ihm die Hand hin.
    »Den gleichen? Nein. Er hatte überhaupt keinen Ring. Wahrscheinlich gestohlen. Aber würdet Ihr sagen, daß er störrisch ist?«
    »Störrisch wie Satanas.«
    »Und hat er die Angewohnheit, seine Beleidigungen als Wahrheit auszugeben?«
    »Das ist er, wie er leibt und lebt.«
    »Dann ist er es, den ich gefangen halte. Doch Ihr könnt keine Brüder sein. Es sei denn, Eure Mutter hätte mit einem Stallknecht geschlafen.«
    »Ihr beleidigt die Herrin, meine Mutter! Bei Gott, habt Ihr das gehört, Ihr Herren? Die Herrin, meine Mutter, war so rein wie Schnee!«
    »Zügelt Eure Hand, englischer Laffe, es sei denn, Ihr wollt morgen sterben. Der Sieur d'Aigremont erschlägt Euch nämlich mit einem Hieb.« Der Gesandte beugte sich vor, um ein eventuell drohendes Blutvergießen zu verhindern. Der Graf lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Sir Hugo mit dem Anflug eines Lächelns, als wäre dieser ein törichtes Tier, das am Köder einer aufgestellten Falle schnuppert.
    »Sagt der lieblichen Margaret, daß ich Euch noch nicht töte. Zuerst soll sie etwas zu sehen bekommen. Fray Joaquin, den Brief, bitte.« Fray Joaquin zog ein gefaltetes Papier mit gebrochenem Siegel aus seinem Habit und reichte es seinem Herrn, der es entfaltete und Sir Hugo damit vor der Nase herumwedelte.
    »Nun, was bedeutet das, Sir Hugo?«
    »Mir? Ich kann nicht lesen. Bittet den Priester, daß er ihn entziffert.«
    »Gebt ihn Lady Margaret.« Cis nahm ihn, hielt ihn verkehrt herum und starrte sittsam zu Boden.
    »Bittet sie, ihn vorzulesen, Sir Hugo.«
    »Vorlesen?« Sir Hugo erbleichte. »Was steht darin?«
    »Das ist der Brief von der wahren Margaret, den Euer Möchtegern-Bruder bei sich trug. Mir scheint, daß die Margaret hier ihn nicht lesen kann. Ich glaube, Ihr wollt mich betrügen, Sir Hugo. Ich will die Margaret, die diesen Brief geschrieben hat, sonst habt Ihr die Bedingungen nicht erfüllt, oder?«
    »Nun, ah – hmm – die Margaret – diese Margaret ist die Base jener Margaret. Und jene Margaret – die ist sehr krank. Gebrochenes Herz. Auf der Schwelle des Todes. Konnte nicht reisen. Also hat diese Margaret gesagt, sie geht mit. Sie sehen genau gleich aus, und ehem, Ihr habt doch gerade gesagt, Ihr wollt Margaret haben – da ist sie, und wir haben damit Eure Bedingungen erfüllt.«
    »Dann ist die da also auch eine Margaret. Das erklärt alles. Der Narr hat sich bei der Beschwörung nicht genau genug ausgedrückt«, sagte der Graf bei sich und drehte sich zu dem Dominikaner um, der neben ihm immer noch katzbuckelte. »Fray Joaquin«, fauchte er, »Ihr verdammter Stümper, das sollt Ihr mir büßen.« Dann richtete er das Wort wieder an Sir Hugo. »Keine Margaret, kein Freikauf. Zieht heim und bringt mir die richtige Margaret, Engländer.«
    »Das ist ganz und gar unfair. Ihr habt meine Mutter beleidigt, meine Margaret beleidigt, und nun wollt Ihr meinen Bruder nicht freigeben. Wir treffen uns morgen auf dem Turnierplatz.«
    »Auf dem Turnierplatz? Gut. Mit Eurer gütigen Erlaubnis werde ich Euch auf eine Weise töten, die einem Ritter wohl ansteht. Doch ich gehe nur Eurer Mutter wegen in die Schranken. Für die Sache mit der untergeschobenen Margaret sollte ich Euch in meinem kleinen Zimmer unten in Einzelteile zerlegen. Was den Mann angeht, den Ihr Euren Bruder zu nennen beliebt, so schlage ich eine kleine Kurzweil vor. Ihr habt Euren Spaß gehabt, jetzt will ich meinen. Die Margaret hier – die Base oder was auch immer sie ist, soll, da die wahre Margaret nicht anwesend ist, mit mir um ihn spielen. Sie darf das Spiel wählen.« Er winkte in Richtung der Spiele, die auf dem roten Tuch des Kastentisches für die abendliche Kurzweil aufgebaut worden waren. »Wenn sie gewinnt, schwöre ich bei meiner Ehre als Edelmann vor allen Zeugen hier, daß er als freier Mann mit ihr ziehen darf. Wenn ich gewinne, behalte ich ihn und auch sie für meine Zwecke, wie auch immer die geartet sein mögen.« Ein unangenehmes Lächeln verzog die Mundwinkel des Grafen, und seine Augen funkelten im Fackelschein. Die Gesellschaft hatte Feuer gefangen und schob sich näher. Das hier war ein königlicher Spaß. Ein Leben für eine Frau: Stoff für ein chanson de geste. Die Schachfiguren standen auf dem Silber- und Ebenholzbrett bereit; dazu warteten Dame, Backgammon und andere Spiele. Hugo musterte den Tisch. Selbst ihm war klar, daß der Graf sein Spiel mit ihm trieb. Schach? Als ob Cis jemals Zeit gehabt hätte, die

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