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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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›tirili,tirila‹ singen. Da bin ich mir wie auf der Schneehundjagd vorgekommen.«
    Die Züge des Grafen entspannten sich. Er wußte, wann ein Kompliment von Herzen kam.
    »Und Ihr würdet das Thema nicht etwas – abgedroschen finden?« fragte er in bedeutsamem Ton. Wieso, das ahnte ich nicht.
    »Abgedroschen? Wieso denn? Kommt der Sommer nicht jedes Jahr? Derlei nutzt sich doch nicht ab! Ich selber kann vom Sommer gar nicht genug bekommen. Meine liebste Jahreszeit!«
    »Gesprochen wie ein Edelmann!« rief der Graf, und dann beugte er sich vor und seine Augen glühten. »Doch nicht wie ein Bruder des übel beleumdeten, schurkischen Kerls, der in meinem Verlies sitzt. Entweder Ihr seid ein Hochstapler, Sir Hugo, oder aber jener Mann, den Ihr freikaufen wollt, ist einer. Ich ziehe Letzteres vor.«
    »Ein Hochstapler! Ich soll den weiten Weg gemacht haben, um einen Hochstapler auszulösen?«
    »Denkt Ihr etwa, ich sperre einen Edelmann ins Verlies? Welches Spiel treibt Ihr, Sir Hugo – oder besser, welches treibt Euer Herr in Bordeaux? Und wer ist der jämmerliche Verseschmied, den ich in meinem Verlies habe?«
    »Wie könnt Ihr es wagen, mich zu beleidigen? Mein Auftrag ist ein Ehrendienst, und ich will meinen lang vermißten Bruder Sir Gilbert de Vilers auslösen, dessen Lösegeld Ihr nach der Belagerung von Verneuil aufgekauft habt und den Ihr bei Eurer Ehre freilassen müßt.«
    »Wollt Ihr mich etwa herausfordern, Ihr englischer Piepmatz? In der Schlacht und im Turnier hat mich noch niemand geschlagen. Seht mich an, ich bin der Comte de St. Médard!« Und damit entfaltete der Graf die mächtigen Gliedmaßen und stand dräuend über Hugo: um eineinhalb Haupteslänge größer als alles im Raum und doppelt so schwer, lauter feste Muskeln unter den Speckwülsten.
    »Ich beleidige Euch keineswegs, Ihr beleidigt das Ritterideal«, erwiderte Hugo, und die Röte stieg ihm den Hals hoch. »Ich sage hier, vor diesen edlen Gästen und Zeugen, daß ich ein Mann von Ehre und in friedlicher Absicht gekommen bin.« Der Gesandte des Grafen von Foix neben ihm wirkte jetzt auf höchst interessante Weise mit Cis verflochten. Vielleicht kam es daher, daß sich sein Bart versehentlich im kunstvollen Filigran ihres Kreuzes verfangen hatte, doch wer weiß.
    »Friedlich? Wieso friedlich? Offenbart Euch jetzt, oder stellt Euch mir morgen auf dem Turnierplatz.« Alles starrte sie jetzt an. Selbst der Gesandte hatte seine verlorengegangene Hand wiedergefunden und merkte auf.
    »Ihr habt einen Boten nach England geschickt und gefordert, daß das Lösegeld für meinen Bruder von der weißen Hand Margarets, seiner Frau, bezahlt werden müsse. Und ich habe dem Kerl da – dem Dominikaner mit dem grauen Gesicht – eine Antwort mitgegeben des Inhalts, daß wir in Eure Bedingungen einwilligen – und da sind wir. Und wo bleibt unser Willkomm? Warum habt Ihr uns nicht ehrenvoll aufgenommen? Nichts als Beleidigungen, die eines christlichen Ritters nicht würdig sind.«
    »Das soll ich gesagt haben?« Der Graf drehte sich um und warf der finsteren Kreatur, die neben ihm stand, einen argwöhnischen Blick zu.«
    »Eine Vision, Herr. Eine Halluzination. Teil des Beschwörungszaubers«, murmelte der Mönch eiligst.
    »Oh. Aha. So ist das. Nun, Sir Hugo, das also ist die schöne Margaret, die Inspiration des Dichters?« Er betrachtete Cis mit neu erwachtem Interesse, dann warf er einen schiefen Blick in die Runde, so als bedauerte er das Beisein so vieler Zeugen.
    »So ist es. Und gekommen, sein Lösegeld persönlich zu zahlen. Und da wir Eure Bedingungen erfüllt haben, seid Ihr als Edelmann verpflichtet, es anzunehmen.«
    »Kommt her«, bedeutete der Graf Cis. Sie blickte sittsam zu Boden. »Spricht sie etwa kein Französisch?« fragte der Graf neugierig.
    »Darauf verstehen sich nur wenige Frauen in England«, sagte Sir Hugo unerschrocken.
    »Die noblesse sehr wohl. Das ist eigenartig«, sagte der Graf.
    »Sie hat das Geld in die Familie gebracht.«
    »Doch so fromm und schüchtern. Ideal für meine Zwecke.«
    »Was immer Ihr im Sinn habt, Ihr müßt meinen Bruder freigeben.«
    »Euren Bruder? Da habe ich so meine Zweifel. Ein großer, dunkelhaariger, knochiger Bursche, der schlechte Gedichte schreibt?«
    »Gedichte? Ich wußte gar nicht, daß er Gedichte macht. Hört sich ganz nach ihm an, nur die Gedichte nicht. Denkt über Gott und derlei Zeugs nach – aber Gedichte? Nun gut, möglich ist es. Er trug den gleichen Siegelring –« Und Sir Hugo

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