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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Serviette. Und wenn er es nicht will, dann esse ich es später selber, setzte er bei sich hinzu.
    »Mmpf. Sieh doch bloß, was für protzige Sachen.« Margaret rümpfte die Nase. »Und fast alles stinkt nach Fliederwasser. Oh, hier ist etwas Hübsches – Sim, weißt du, wo Malachi steckt?«
    »'türlich. Ich bin ihm bis zur Tür gefolgt.«
    Margaret hob den Kandelaber auf und versah ihn mit neuen, brennenden Kerzen aus den Wandhaltern. Sie nahm die Kleider über einen Arm, mit dem anderen hielt sie den Kandelaber hoch und ging zur Tür. Dort vertrat ihr die kleine Gestalt Bruder Anselms den Weg; er hatte sich zu voller Größe aufgeblasen und hielt eine Hand hoch.
    »Halt!« rief er auf Französisch. »Seid Eurer Sünden eingedenk und bereut!«
    »Oh, Mist«, sagte Margaret auf Englisch und dann befahl sie dem kleinen Mönch: »Kommt mit.« Etwas in ihren Augen veranlaßte Bruder Anselm, sich zu fügen. Irgendwie blitzten sie im Schein des hocherhobenen Kandelabers genau wie die Augen eines jagenden Falken.
    Während sie die gewundene Treppe zu den Geheimkammern hinunterstiegen, wurde das Gerenne und Gelaufe des aufgewachten Gesindes immer lauter, und dann hallte die erste, schrille Totenklage durch die dunklen Gänge des Chateaus.
    »Fort mit Schaden«, sagte Margaret mit trotzig vorgerecktem Kinn und ging doppelt so schnell weiter. Am Ende einer langen, offenen Treppe an der Innenmauer des sogenannten ›Neuen Turms‹, der nur neuer als der Alte Turm war, kam sie zu einer niedrigen Tür mit Ungeheuern aus Gußeisen. Mutter Hilde zupfte sie am Ärmel, doch sie bemerkte es kaum.
    »Margaret, sei vorsichtig. Denk daran, Malachi hat gesagt, daß es hier von finsterem Gesindel nur so wimmelt«, mahnte Mutter Hilde. »Reize sie nicht. Angenommen, sie tun ihm etwas, nur weil du sie verärgert hast.«
    Aber Margaret war so erbost, daß sie ohne einen Gedanken an die Folgen an die Tür hämmerte.
    Drinnen überlegte Fray Joaquin gerade, was er tun sollte, damit die Stummen keinen Verdacht schöpften, wenn sie feststellten, daß es in Richtung Stall und nicht zu den Gemächern des Grafen ging. Die merken doch, daß die Richtung nicht stimmt und könnten mich erdrosseln. Ich gehe allein mit dem Alchimisten. Vielleicht entkomme ich ihnen mit einer List. Ich sage einfach, daß ich die Ehre nicht mit ihnen teilen will…
    »Aufmachen, sofort aufmachen, Bruder Malachi. Der Graf ist tot«, hörte er die Stimme einer Frau vor der Tür in Englisch rufen. Englisch verstand er zwar nicht richtig, aber er kannte die Worte für Tod und Geld in mehr als einem Dutzend Sprachen. Und jetzt hörte er Graf und tot, und bei dem Klang hüpfte ihm hoffnungsfroh das Herz. Himmlisch, himmlisch. Sein innigster Wunsch war in Erfüllung gegangen, und das genau zum richtigen Zeitpunkt. Aber wenn er sich nun verhört hatte? Er zog das Stilett und machte die Tür auf.
    »Graf – tot?« fragte er, doch was er vor der Tür sah, ließ ihn innehalten, und die Stimme brach ihm. Dort in der offenen Tür stand eine Frau mit einem Kandelaber in der Hand. In ihren wilden Augen glitzerte das Licht von einem Dutzend Kerzen und glänzte auf ihrem seidig fließenden, offenen Haar. Durch ihr zerrissenes Kleid leuchtete das weiße Fleisch ihrer nackten Schulter. Mehr konnte er nicht sehen. Frauen. Ja. Mit dem Gold würde er Frauen haben. Die hatte er so lange entbehren müssen. Er würde seinen Namen wechseln – sich wie ein Edelmann kleiden. Inmitten von Dutzenden wohlriechender, barbusiger Frauen leben …
    »Malachi. Ich will Malachi haben – Theophilus, wie Ihr ihn nennt.«
    Zum Teufel mit dem kleinen Mann. Vielleicht hatte er die unbekleidete Frau mit dem Zauber beschworen, mit dem er auch das Gold machte. Erschrocken erkannte er sie. Es war die kleine, englische Wittib, und die war ganz verwandelt und strahlte blanken Wahnsinn aus. Das mußte er öfter tun, diesen furchterregenden Zauberspruch anwenden und ihm Frauen fürs Bett verschaffen, die ihm zu Willen waren. Darum ist er so friedfertig gewesen. Er will mich verhexen. Macht – Macht ist besser als Gold. Und das hatte der gefährliche, kleine Mann die ganze Zeit über gewußt.
    Kein Wunder, daß er so sorglos mit dem Geheimnis des Goldmachens umging. Er hatte ein noch größeres in Reserve.
    Margaret sah das Messer. Und sie sah auch Fray Joaquins Blick und wußte, daß er in seinem Wahnwitz ohne Vorwarnung zustechen konnte. Wie nur an ihm vorbeikommen?
    »Der Ring.« Mutter Hildes Stimme an Margarets

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