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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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er.
    »Natürlich«, gab Messer Guglielmo zurück.
    »Ganz sicher? Der Mann da ist ein Schwindler. Habt Ihr nicht gehört, wie er Euch durcheinanderbringen wollte? Der Graf muß sich darauf verlassen können, falls dieser Schwächling unter der Befragung den Geist aufgibt.«
    »Klar.«
    »Gut«, sagte Fray Joaquin und stieß Messer Guglielmo das gemeine, kleine, nadelscharfe Stilett zwischen die Rippen.
    Und als der Alchimist am Boden lag und ihm hellrosa Schaum auf die Lippen trat, richtete Fray Joaquin folgende Worte an den frischen Leichnam: »Jetzt kennt nur noch ein Mensch das Geheimnis der Geheimnisse.« Und dann wischte er das Stilett ab und ging zurück in die Werkstatt.

    Bruder Anselm hatte sich vor der Tür zum Schlafgemach des Grafen so klein wie möglich gemacht. Er war seiner Pflicht nachgekommen: Er hatte der Frau ins Gewissen geredet. Jetzt kämpfte er mit sich, was er tun sollte: zu Bett gehen oder die Ereignisse abwarten? Es gab noch eine dritte Möglichkeit, doch die war äußerst dramatisch und vielleicht unklug. Er könnte ins Zimmer platzen, das Kreuz schwenken und ihre Sünde laut brandmarken wie ein Prophet des Alten Testaments. Das bedeutete natürlich den sicheren Tod, doch der wäre süß und glorreich. Ei, man käme wohl schnurstracks in den Himmel wie ein heiliger Märtyrer – deshalb spielte er kurz mit dem Gedanken. Eine der Wachen vor der Tür blickte ihn grimmig an, und da überlegte er es sich. Schließlich hatte er Compostela noch nicht gesehen, und es wäre zu betrüblich, wenn er es soweit geschafft hätte und dann den besten Teil versäumen müßte. Wenn sie nur erst aufbrechen könnten; von hier war es nur ein Tagesmarsch bis Port de Cize, diesem außergewöhnlichen Berg mit seinen tausend und abertausend Pilgerkreuzen, dem Tor zu Spanien und der ersten Station auf dem Weg nach Compostela selbst. Man durfte sich schon sehr glücklich preisen, wenn man es nur bis dorthin schaffte, falls man bedauerlicherweise starb, ehe man das Heiligtum aller Heiligtümer erreicht hatte.
    Er zog sich ins dämmrige Dunkel zurück. Und dort erspähte er noch eine Gestalt, die in der Nähe der Tür herumlungerte. Die alte Amme, die Reisegefährtin der Wittib – die, welche allzu freundschaftlich mit dem Beichtvater der Wittib verkehrte –, da war sie und verbarg sich im Dunkel hinter einer Biegung des Ganges. Und war da nicht noch jemand bei ihr? Der häßliche, kleine Junge?
    Nicht lange danach hörte er eine Frau furchtbar schreien und darauf das Geräusch einer Rauferei. Da stellte man sich lieber taub. Schließlich wußte sie, auf was sie sich einließ. Die Wachen lachten in sich hinein und blickten sich vielsagend an. Dann hörte man die erschrockene Stimme des Grafen »à moi, à moi! rufen, und in die beiden Wachen kam Bewegung; sie schlugen die Tür mit einem einzigen, gewaltigen Hieb ein, stürzten ins Zimmer und versuchten, den um sich schlagenden, zuckenden Leib des Grafen festzuhalten, der unter einem Anfall von Fallsucht zu leiden schien. Bruder Anselm konnte den Blick nicht losreißen. Hinter ihm standen schweigend zwei Gestalten im Dunkel. Dann stürzte sich der Graf mit einem gräßlichen Schrei aus dem Fenster, so als verfolge ihn etwas Unsichtbares und Dämonisches. Die Gestalten an der Tür zogen sich vorsichtshalber zurück, als die Wachen ihm nicht mehr nachsahen, sondern sich umdrehten, Alarm schlugen und in der Dunkelheit einen Suchtrupp hinter dem Leichnam herschickten.
    Die Alte spähte ins Zimmer. »Margaret? Margaret?« konnte er sie sagen hören, und unter dem Bett hervor gab eine gedämpfte Stimme in dieser barbarischen, unverständlichen Zunge Antwort. Die Frau eilte ins Zimmer, der Junge ihr auf den Fersen. Margaret kam unter dem Bett hervor, das Kleid zerrissen und das Haar unbedeckt, und von einer anständigen Kopfbedeckung keine Spur mehr. Bruder Anselm wandte den Blick ab, es war unanständig, ihre langen, halb aufgelösten Zöpfe anzustarren.
    »Weiche von mir, Satanas«, murmelte er. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, hineinzuplatzen und ihnen Vorhaltungen zu machen, denn sie schienen das Zimmer zu durchwühlen.
    »Den Siegelring da vom Tisch, Mutter Hilde, und das Siegelwachs auch.« Margaret durchsuchte systematisch die Kleider auf den Haken.
    »Was tust du da, Margaret?«
    »Ich mache mich auf die Suche nach Gregory, und ich weiß, daß er es dort unten kalt hat.«
    »Hunger auch«, sagte Sim und wickelte den Kapaun und das Brot in eine

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