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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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angekommen war. Doch als diese Schwierigkeit erst einmal überwunden war, wurde Bénézet ein Heiliger, denn so geht es, wenn man es schafft, die Anweisungen himmlischer Stimmen zu überleben. Die Brücke ist sehr schön und prächtig, mit einer Kapelle in der Mitte genau wie unsere London Bridge daheim, doch ich muß gestehen, die finde ich weitaus schöner, obwohl sie nicht nach himmlischer Anweisung entworfen wurde. Leider warnte Gott Bénézet nicht, daß die schönen, weißen, festgefügten Steine des Fahrdammes für Pferde zu rutschig sein würden. Darum muß, wer sich nicht verletzen will, absteigen und das Pferd am Zügel hinüberführen. Natürlich mag das in Gottes Absicht liegen, denn so müssen sich alle gleichermaßen erniedrigen und werden daran gemahnt, daß unser Heiland viel zu Fuß gegangen ist.
    Malachi jedoch behauptete, die Bemerkung wäre ganz typisch für mich und zählte und zählte. »Eins, zwei – ja, da ist einer«, so als ob er am Ende doch noch den Verstand verloren hätte. Und dann erklärte er mir, daß ein altes Sprichwort besagt, man könne die Brücke nicht überqueren, ohne nicht zwei Mönchen, zwei Eseln und zwei Huren zu begegnen, und er meinte, wenn sich das bewahrheitete, so würde er in Avignon Glück haben. Wie es so geht, waren die Esel am schwierigsten aufzutreiben, denn eine Stadt voller Kleriker und Studenten hat von den anderen Sorten außergewöhnlich viel aufzuweisen.
    Während wir uns mit Marktfrauen und Pilgern drängelten und darauf warteten, daß der bewaffnete Trupp des Bischofs eingelassen wurde und das Tor passieren durfte, machte der Regen Ernst. Ich hielt an und zog Gregory die Pelzdecke übers Gesicht, dann half mir Robert wieder beim Aufsteigen. Gregorys Atem pfiff, und seine Augen sahen ganz glasig aus, so als wanderte sein Geist schon wieder. Wenn wir doch alle erst Obdach gefunden hätten; ich hatte schrecklich Heimweh, als ich merkte, daß die Fremden, die auf der Straße an uns vorbeihasteten und nach einem Dach über dem Kopf rannten, alle irgendein Ziel hatten.
    Als wir dann in den Hof der ersten Herberge innerhalb der Stadtmauer einritten, hatte der Regenguß den Dreck in tiefen Morast verwandelt, so daß die Hufe unserer Pferde ganz schlammverkrustet waren. Wogende Gewitterwolken verdunkelten den Himmel noch vor Sonnenuntergang, und wir hatten keinen trockenen Faden mehr am Leib. Unter dem überkragenden ersten Stockwerk der Herberge versuchten wir Schutz zu finden, und Hugo schlug vom Pferd aus an die geschlossenen Läden des Zimmers über dem Bogeneingang zum Hof.
    Ein Frauenkopf tauchte auf, sprach uns kurz in einer unverständlichen Sprache an, verschwand, und tauchte wieder mit einer anderen Frau auf – eine von der entschiedenen, hausmütterlichen Art. Die neue Frau, offensichtlich die Besitzerin, rief in dem Französisch mit dem rollenden, südlichen Akzent: »Sucht Ihr Platz? Wer seid Ihr?«
    »Ausländer von hohem Stand, die ein Obdach brauchen, gute Frau«, übertönte Hugo den Donner.
    »Was bringt Ihr da mit? Einen Leichnam? Das hier ist ein anständiges Haus. Leichen kommen mir nicht über die Schwelle«, rief die Frau.
    »Es ist ein verwundeter Ritter«, rief Hugo zurück, wobei er recht freizügig mit der Wahrheit umging.
    »Verwundet? Ha. Wahrscheinlich krank. Und ansteckend. Fremdländische Kranke haben mir gerade noch gefehlt. Zieht Eures Wegs!« Und schon wollte sie die Läden zuschlagen.
    »Wehe, Ihr schließt die Läden, sonst brenne ich Euer Haus nieder!« brüllte Hugo, und Robert fiel ebenso grimmig ein.
    »Alles nur Gerede«, sagte die Frau. »Geht zum quartier des soldats und fragt beim Mohrenhaupt nach. Die Frau nimmt jeden. Der wünsche ich sowieso die Pest an den Hals.« Und so warteten wir durchnäßt und frierend, daß der strömende Regen eine Pause einlegte, während Hugos Männer murrten und ihre Pferde unter dem Vordach tänzelten und wieherten.
    Als wir endlich das Téte du Maure erreichten, war es bereits dunkel, und ich fröstelte und betete, daß wir Gregory nicht durch den Regenguß verlieren würden. Als wir jedoch die Sänfte am großen Feuer im Raum zu ebener Erde absetzten und alles sich trocknete und aufwärmte, da wurde offenbar, warum man uns dorthin geschickt hatte. Frauen würfelten mit betrunkenen Soldaten, Frauen tranken mit ältlichen Priestern, Frauen betatschten in der Ecke angesäuselte Studenten. Es gab alte Frauen und junge Frauen, fette und dünne, helle und dunkle. Sie warfen uns einen

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