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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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über große Probleme, die man nicht lösen kann, führt zu nichts. Mach es wie ich und denke über die kleineren Probleme nach, die sich leicht lösen lassen. So schickt uns Gott nur Freudentage. Ich beispielsweise stelle augenblicklich Überlegungen an, ob sich im Schoße dieser außergewöhnlichen Alma Mater nicht der Übersetzer befinden könnte, den ich suche. Während du dich nur aufregst, verbringe ich die nächsten Stunden mit glücklichen Gedanken, Jagdfieber und gar köstlicher Vorfreude. Denke daran und bessere dich.«
    Nach einigen Nachforschungen kam Malachi sehr entmutigt zurück, denn durch Pest und Kriege war die Universität zu einem armseligen Schatten ihrer selbst verkommen – zusammengeschrumpft auf ein paar hundert Studenten und eine Handvoll Magister. Er hatte drei Konvertiten gefunden, mehrere Leute, die behaupteten, sie hätten einst einen Juden gekannt, dazu einen wahnsinnigen Magister, der ihm erzählte, Gott hätte ihm im Traum die Kraft verliehen, hebräische Schriften zu lesen, und einen ältlichen Doktor der Theologie, der ihn nach Avignon schickte. Und keiner, wirklich keiner, zeigte an seinem Buch voller seltsamer Krakel Interesse.
    Nur Hugo zog Nutzen aus unserem kurzen Aufenthalt dort. In der Abendkühle, als der Winterregen aufgehört und der Wind die dunklen Wolken vom Antlitz des Mondes fortgeschoben hatte, vernahmen wir in der Gasse hinter unserer Unterkunft die Stimmen von Studenten. Schwermütig warfen die regenglänzenden Steinmauern ihr Lied zurück, und wir hörten sie über die nassen, unebenen Pflastersteine quatschen und stapfen. Ich öffnete die Fensterläden, um die Musik hereinzulassen. Drei junge Männer bummelten und sangen dort zusammen in Nässe und Mondenschein, und der in der Mitte hatte eine bändergeschmückte Laute. So haben es Studenten schon immer gehalten und werden es trotz Krieg und Pest bis zum Ende der Zeit halten. Am Ende der Gasse blieben sie stehen und hoben zu einem anderen Lied an – eines mit den eigenartigen, lieblichen, gewundenen Melodien des Südens. Ein weiterer Fensterladen wurde aufgestoßen, und ein Mädchen steckte den Kopf heraus und spähte in die Dunkelheit. Ihre dicken, dunklen Zöpfe fielen auf das Fensterbrett, und ich konnte sie lachen hören.
    »Laßt mich sehen«, sagte Hugo und drängte sich ans Fenster – wir nächtigten nämlich alle zusammen in einem Zimmer, selbst die Knappen und Knechte, die auf Strohschütten zu Füßen von Hugos Bett schliefen. Als ich den Kopf zurückzog, hörte ich ihn murmeln: »– Eine Laute, ja. Das ist es. Viel gefühlvoller –«
    Genau in diesem Augenblick schimpfte eine alte Frau los, und die Läden in der Gasse wurden zugeknallt und machten der Musik ein Ende. Doch der Same war gesät, und als wir am folgenden Tag aufbrachen, befand sich in Sir Hugos Gepäck eine Laute im sarazenischen Stil mit Streifen aus hellem und dunklem Holz und einem Schalloch mit einer Abdeckung aus Elfenbeinfiligran.
    »Ein prächtiges Exemplar«, sagte Gregory, und ein Schatten seines alten, ironischen Lächelns huschte über sein schwer gezeichnetes Gesicht. »Kann interessant werden zu beobachten, wie er sie spielen lernt. Hugo als Troubadour. Nicht auszudenken, daß ich seine künstlerische Begabung immer unterschätzt habe –« Doch dann sank sein Kopf in die Kissen, so sehr hatte ihn das Sprechen angestrengt, und er schwieg den ganzen Weg bis zum Grabmal des heiligen Gilles, welcher allen, die ihn aufsuchen, große Tugend verleiht, denn es enthält den vollständigen Leichnam des heiligen Bekenners, abgesehen von einem Armknochen, der gestohlen wurde, um an anderer Stelle als Heiligtum zu dienen.

    Dräuende, dunkle Wolken hatten sich über uns zusammengeballt, und die ersten, dicken Regentropfen fielen, als wir zu der großen Brücke gelangten, die in die Papststadt Avignon führt. Der gelblichweiße Stein des Brückenbogens und die Kuppeln und Türmchen, die sich auf dem Hügel innerhalb der mächtigen Stadtmauer erhoben, alles glänzte von Nässe und schimmerte vor dem brodelnden Schwarz des Himmels wie Gold. Der Fluß fließt hier rasch und grün, und ist so breit und so gefährlich, daß er nur durch ein Wunder überspannt werden konnte. Doch es gab tatsächlich eine Brücke, denn Gott hatte höchstpersönlich einem kleinen Schäferjungen mit Namen Bénézet bedeutet, wie man sie bauen sollte. Natürlich hatte der Bischof gedroht, Bénézet Hände und Füße abzuhacken, als er mit dem Vorschlag

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