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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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nie so recht.
    »Die verdammte kleine Hexe hat mich ausgelacht. Du hast es gehört. Und dieses groteske Bürschlein, das sich Meister der Musik schimpft, sagt, ich muß mich noch vervollkommnen. Ich und vervollkommnen! Wo ich doch vollkommen bin!«
    »Ja, Mylord«, erwiderte Robert ohne die geringste Andeutung von Sarkasmus in der Stimme. Er will die Laute wirklich haben, dachte ich. Er muß eine Frau gefunden haben, die er minnen will, und Hugo soll nichts davon wissen.
    »Na gut, Robert. Spiel du darauf. Ich glaube, ich gehe und pflege meine Begabungen bei dem kleinen, dunklen Kerl, den wir im Vorzimmer des Kardinals getroffen haben. Schien eine Menge davon zu verstehen. Ei, in dieser Stadt ist die Poesie der Köder, mit dem man die lieblichsten Fischlein fängt. Wer hätte das gedacht? In der Regel geben sie sich mit einem hübschen Gesicht und einer guten Figur zufrieden. Nun ja, überall wollen sie es anders. Robert, hast du schon das süße Dingelchen gesehen, das am Ende der Straße der Maler wohnt?«
    »Die mit dem Leberfleck?«
    »Ganz recht. Und sie hat noch einen auf ihrem –«
    »Sir Hugo«, kam ich dazwischen. »Wie könnt Ihr nur den Papst sehen wollen, wo Ihr mit jedem Tag ein schlimmeres Leben führt?« Er blickte mich fragend an.
    »Schlimmer? Ich bin noch nie so heilig gewesen. Dieser Tage stehe ich praktisch schon mit einem Bein im Himmel. Monatelang keinen bettelnden Bürger mehr umgebracht, keine Frau gehabt, die ich nicht bezahlt hätte. Ei, zu Hause habe ich mir nur zu Ostern die Beichte abnehmen lassen und natürlich, ehe es in den Kampf ging. Jetzt gehe ich jede Woche zur Beichte. Bin schon fast so weiß wie Schnee. Habe in St. Agricole einen Priester aufgetrieben, der kein Wort Englisch kann. Ich erzähle ihm alles. Er nickt. Ich schlage mich an die Brust und weine. Er erteilt mir die Absolution. Ich mache eine Spende. Ich sage Euch, ich führe ein neues Leben. Mein Gott, das kommt daher, daß dieser Ort so heilig ist. Das färbt ab, selbst auf einen Sünder wie mich.« Er verdrehte die Augen gen Himmel und faltete die Hände, und da er nicht gerade ein Kirchenlicht ist, war es ihm völlig ernst damit. »Zu Zeiten – zu Zeiten spüre ich, daß ich hier von Heiligen umgeben bin. Abgehoben. Die güldenen Säle! Der Weihrauch! Diese Pracht! So muß Gott leben! Haarscharf wie im Himmel!« Und schon trieb es ihn in den ersten Stock.
    Bruder Malachi war natürlich genauso beschäftigt. Er brachte seine Tage damit zu, seinen Übersetzer zu suchen, und seine Abende mit Wehklagen. Müde und mit wunden Füßen kehrte er dann wohl heim, nachdem er die schäbigen Straßen des jüdischen Viertels abgeklappert hatte, saß auf dem Bett und schimpfte: »Dieser gräßliche Seemann, dieser Jannetus, und dieser Elende in Montpellier, hereingelegt haben sie mich! Wißt ihr eigentlich, wieviele Männer im jüdischen Viertel Abraham heißen? Alle die, welche nicht David oder Isaak heißen. Und Nachnamen! Ich könnte schwören, man hat mich absichtlich in die Irre geschickt! Natürlich bekommt in jeder christlichen Stadt alles, was jüdisch ist, den Beinamen ›der Jude‹. Und aus der ganzen Christenheit sind zahllose »Abraham der Jude‹ nach Avignon geströmt. Das ist, als wollte man in London nach John dem Schmied oder William dem Koch suchen.«
    »Aber was ist mit der Universität? Ich dachte, dort würde es Leute geben, die Hebräisch lesen können. Habt Ihr das nicht selber gesagt?«
    »Die weigern sich, etwas anderes als die Heilige Schrift zu übersetzen. Mir will scheinen, daß es mit der Toleranz nicht weit her ist, nicht einmal in Avignon. Ich habe mich nach diesem Burschen, diesem Josceus Magister, erkundigt. Wenigstens der war echt. Aber auch tot – vor ein paar Jahren an der Pest gestorben. Also trieb ich seinen Nachfolger auf, einen jüdischen Professor, einen sehr gelehrten Mann. ›Ist es ein heiliges Buch?‹ fragt der. ›Ihr müßt nämlich wissen, daß ich meine Stellung verliere, wenn ich mich auf etwas Unlauteres einlasse. Sucht Euch jemand, den man nicht entlassen kann, wenn er die Übersetzung für Euch anfertigt.‹ Und da habe ich ihm von Abraham dem Juden erzählt. ›Oh, ja, der. Sehr gut. Wendet Euch an ihn, der soll es ruhig machen. Guten Tag.‹«
    »Unter diesen ganzen Abrahams werdet Ihr doch wohl schon bald den Weisen finden, von dem Ihr gehört habt.«
    »Den Weisen? Alle sind sie weise – weise in meinen Augen. Ich gehe zu Abraham dem Geldwechsler. ›Was ist das?‹ sagt

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