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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Kirche etwas für Besucher erübrigen. Natürlich gab es auch Nachteile, denn Räuber und Wegelagerer hatten es besonders auf Klöster, Kirchen und diese Art reisender Geistlichkeit abgesehen.
    Und dann waren natürlich noch Bettler und Wanderer ohne Zahl unterwegs, welche der dauernde Kriegszustand verstümmelt oder heimatlos gemacht hatte. Die konnten unsere Wachsoldaten unschwer vertreiben, sie riefen ihnen zu, ihre Herren sollten sich um sie kümmern. Doch ihre Herren waren (selbstverständlich) auch auf Raubzug, schließlich konnte man dabei anständig verdienen. Übrigens konnten diese Bettler gar nicht nach Haus, selbst wenn sie noch ein Dach über dem Kopf hatten, denn man wollte ihnen nicht die Steuern erlassen, was ein vernünftiger Herr angesichts des Zustands der Felder getan hätte. Als wir später hörten, daß ebendiese Bauern sich erhoben und ihre Herren gebraten und obendrein verspeist hatten, da nahm mich das keineswegs Wunder, denn in England habe ich Zehntscheuern schon für weitaus weniger brennen sehen. Warum wohl sollten diese verhärteten Menschen Grausamkeit nicht mit gleicher Münze heimzahlen?
    Wo auch immer wir haltmachten, gleich erkundigten sich die Hauptleute unserer Reisegesellschaft, wo die einheimischen Wegelagerer, die écorcheurs, die Söldner und die freien Kompanien lagen. Dann machten wir Pause oder nahmen je nach Angaben einen anderen Weg. Vor allem trachteten unsere Hauptleute nach Kunde vom ›Erzpriester‹, diesem Ungeheuer von einem abgefallenen Priester, der Söldnerhauptmann geworden war und dessen riesiges, umherwanderndes Heer, Société d'Acquisition genannt, sich irgendwo zwischen uns und der Papststadt Avignon befinden sollte. Dieser hatte Städte und Festungen eingenommen, und falls wir das Pech hatten, seinen Weg zu kreuzen, bestand durchaus die Möglichkeit, daß er unser Blut aus Kelchen von Kirchen trank, die er in Brand gesteckt hatte.
    Doch Gott war mit uns; wir trafen auf keine écorcheurs und kamen am Ende in Avignon an, ohne mehr als einen Mann in Narbonne am Fieber verloren zu haben, und das war ein gebrechlicher, alter Geistlicher. Viele denkwürdige Dinge sahen wir unterwegs: ein paar scheußliche, wie beispielsweise gehäutete oder verstümmelte Leichen, und einige schöne, wie uralte Heiligtümer und die Ruinen von prächtigen Gebäuden, welche die heidnischen Römer hinterlassen hatten. Doch die weißen Schotterstraßen durch die trockenen Hügel und die trostlosen, wogenden Dünen und die verkümmerten Pinien an dem fremden Meer machten, daß mein Heimweh nach dem gefälligen Grün Englands immer schlimmer wurde.
    In Montpellier, wo es eine Universität gibt, wurden wir vor der Stadtmauer von einer aufgebrachten Menge empfangen, die beschimpfte und bewarf einen Mann in Gelehrtenrobe mit Abfällen, der verkehrt herum auf einem Esel saß. Dort hatte sich Malachi vor langer Zeit aufgehalten, und er erzählte uns, daß man so jemanden zur Stadt hinaustreibt, der ohne einen Universitätsgrad Medizin praktiziert.
    »Denn«, so sagte er, »hier gibt es eine berühmte medizinische Fakultät, und die kontrolliert das Gewerbe.«
    »Wie gut, daß man in England darüber anders denkt, sonst gäbe es keinen Esel mehr in ganz London«, erwiderte ich. »Es wäre doch gerechter, wenn man die Ärzte, die Menschen umbringen, verjagte und nur die behielte, welche die Menschen gesund machen.«
    »Ha«, sagte er, »dann gäbe es in der ganzen Christenheit keinen Esel mehr.«
    »Also Malachi, wenn das nicht schrecklich ist, einen Menschen um diese Jahreszeit aus der Stadt zu treiben«, sorgte sich Mutter Hilde, während wir hoch zu Roß vor den Stadttoren warteten, daß die Menge sich verlaufen und wir eingelassen würden. Der Esel wurde noch ein gutes Stück an uns vorbeigetrieben, ehe man den Reiter mit Gewalt herunterzerrte und ihn dort im tiefen Morast liegenließ, den Esel jedoch führten die sparsamen Bürger zurück in die Stadt.
    »Nicht so ganz, mein Schatz. Bedenke auch das Gute, das sich darin verbirgt. Zu Friedenszeiten würde ihn keine Stadt aufnehmen, und damit wäre er heimat- und arbeitslos. Doch in diesen bösen Zeiten dürfte er schon bald eine Anstellung bei den écorcheurs finden, wenn er nur ein Fünkchen Verstand hat«, erwiderte Malachi, als wir abstiegen, um das Stadttor zu passieren.
    »Aber was wird aus diesem armen Land, wenn sich jedermann den écorcheurs anschließt?« fragte ich.
    »Margaret«, gab Bruder Malachi fest zurück, »Nachdenken

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