Die Vision
neugierigen Blick zu, dann widmeten sie sich wieder ihren Geschäften. Eine ausnehmend üppige Frau mit einem ausladenden, durchsichtigen Kopfputz, der ein Gebirge von Zöpfen aus falschem, schwarzen Haar und klirrende, silberne Kämme und Ohrringe zur Geltung brachte, kam auf uns zu. Ihr Gesicht war ungewöhnlich rot und weiß, und in allen Fältchen hatte sich Reispuder abgesetzt. Augenblicklich lächelten die Fältchen. Sie wandte sich an Hugo, der sich wie ein Hund das Wasser aus den Haaren schüttelte, daß die Tropfen nur so ins Feuer zischten.
»Was steht zu Diensten?« fragte sie. »Ich bin die Fette Jeannot und hier in Avignon als die ›Äbtissin‹ bekannt. In der ganzen Stadt findet Ihr keine bessere Herberge.«
»Bei Gottes Gedärmen!« rief Hugo aus, grinste und blickte sich wohlgemut um. »Ich bin gestorben und im muselmanischen Himmel gelandet!«
Das Téte du Maure war ein übel beleumdetes Haus.
Als dann die Sonne am nächsten Tag wieder schien, war auch klar, was im Mohrenhaupt getrieben wurde. Im Erdgeschoß befand sich der öffentliche Schankraum mit zwei großen, breiten Feuerstellen, schmalen, vergitterten Fensterchen und einer großen Zahl von Nischen, viele mit Vorhang. Im ersten Stock wohnten die Frauen in Zimmern, welche man, sagen wir, für eine Nacht mieten konnte. Im obersten Stock gab es unter den undichten Traufen ein paar Zimmer, die man auf einer wackeligen Außenstiege erreichen konnte und die für einen längeren Zeitraum an Reisende der zweifelhaftesten Art vermietet wurden.
Das Haus war um einen weiträumigen Hof herumgebaut, welchen man von unserem kleinen Fenster aus einsehen konnte. Offene Treppen führten vom Hof zu den Räumen eines jeden Stockwerks. Und bei gutem Wetter wimmelte der Hof von Reisenden in seltsamer Tracht, Juden mit ihrem gelben Abzeichen, die ihre Bündel aufmachten und farbenprächtige Waren feilboten, Studentengruppen, die auf Latein Witze rissen, und schön gekleidete Frauen mit klirrendem Geschmeide, hohen Hauben und Stelzschuhen; stets war ein Kommen und Gehen in geheimnisvollen Geschäften. Alles deutete auf das pulsierende Leben in Straßen und Gebäuden jenseits der Herberge hin, ein Leben, das ich mir auch gern angesehen hätte. Doch die meiste Zeit konnte ich nicht einmal das kleine Zimmer verlassen, denn jemand mußte bei Gregory bleiben, der immer noch schwach und ans Bett gefesselt war. Und außerdem konnte ich nicht ohne Begleitung eines Mannes in die Stadt, und Hugo und Malachi und die anderen waren in eigenen Geschäften unterwegs. Oh, wenn doch nur ein Wunder geschehen würde und Gregory sich eines Tages aufsetzen und wieder der Alte sein und vor Neugier darauf brennen würde, die neuen Stätten zu sehen! Dann würde er mich an seinem starken Arm überall hinführen, und wir könnten uns alles zusammen ansehen und darüber reden, genau wie in alten Zeiten: über die türkischen Gesandten mit ihren seltsamen Turbanen, über die dunkelhäutigen Fremden mit den sprechenden Vögeln auf der Schulter, die Läden, die Straßenhändler, die Heiligtümer und die wunderbaren Kirchen voller Weihrauch und Gesang.
Statt dessen mußte ich mich damit zufriedengeben, alles aus zweiter Hand zu erfahren. Malachi erzählte mir von den Straßen, die er tagtäglich durchstreifte, und Hugo erzählte mir von den Palästen der Großen, wo er stundenlang herumlungerte und auf eine Audienz bei jemand wartete, der ihm die Fürsprache des Papstes verschaffen könnte. Sogar Hilde hatte einen von Hugos Dienern herumbekommen, daß er sie zu den verschiedenen Heiligtümern führte, und sie wollte zwar bei mir bleiben, aber ich konnte sehen, wie es sie zu den heiligen Stätten zog, und so sagte ich, sie solle nur gehen und für Gregory beten, damit könnte sie mir auch helfen.
Eines Tages kam Hugo ganz aufgebracht herein, hinter ihm Robert mit der Laute.
»Ins Feuer mit dem verdammten Ding, Robert. Der Mann, der sie mir verkauft hat, war ein Betrüger: Der Hals ist zu schmal für Männerfinger.«
»Mylord, mit Verlaub – für Feuerholz ist sie zu schade. Gebt sie statt dessen mir.«
»Dir? Habt ihr das gehört? Willst du mich etwa übertreffen?«
»Ich? O nein, ganz und gar nicht. Schließlich kann nicht jeder Verse machen. Die Musik ist doch nur Begleitung. Die Geistesarbeit geziemt sich für den Herrn, das Krachmachen sollte er seinem Knappen überlassen.«
Hugo drehte sich um und musterte Roberts Gesicht. Sein Kopf schien zu arbeiten, doch bei Hugo weiß man
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