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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Irrer und auch kein flämischer Wollhändler. Was auch immer er behauptete, der Mann hatte nicht den berechnenden Blick und das schwerfällige Hirn eines Kaufmanns aus dem Norden. Er musterte die Hände, mit denen der Mann ihm das Buch zur Ansicht hinhielt. Säureflecken. Und die Ärmel – winzige, kleine Brandlöcher wie von fliegenden Funken. O Gott, nicht schon wieder ein Alchimist, dachte Abraham. Was habe ich verbrochen, daß du mir das antust? Aber dennoch eine Versuchung. Seine Frau brauchte ein Paar neue Schuhe, und sein ältester Sohn war aus seinen Kleidern herausgewachsen, die nun, und wenn sie noch so geflickt waren, an das nächste Kind weitergegeben werden mußten.
    »Es sind in der Tat hebräische Lettern«, sagte Abraham. »Aber ich möchte im voraus bezahlt werden.«
    »Ich kann Euch das Buch nicht dalassen. Wollt Ihr es in meinem Beisein übersetzen?« Bruder Malachis Stimme klang ungewöhnlich beherrscht, gemessen an seinem hochgradigen Erregungszustand.
    Abraham der Schneider griff nach dem Buch, und dann setzten sie sich zusammen an den breiten Zuschneidetisch.
    »Laßt einmal sehen – hm.« Er blätterte behutsam um. Er seufzte. Er prüfte es noch einmal. Er seufzte erneut, ein langer, schicksalsergebener Seufzer.
    »Meines Erachtens ist das Buch ein Schwindel«, sagte er.
    »Was meint Ihr mit Schwindel?« erregte sich Bruder Malachi.
    »Wer auch immer das geschrieben hat, Hebräisch hat er nicht gekonnt. Er hat einfach Lettern aufgeschrieben, wie es ihm in den Sinn kam.« Er sah Bruder Malachis Miene. Der Mann wirkte, als hätte der Blitz eingeschlagen. »Die Illuminationen sind jedoch sehr hübsch ausgeführt«, setzte er tröstend hinzu.
    »Aber – könnte es nicht ein verderbter Text sein – oder vielleicht ein verschlüsselter – eine Geheimschrift?« Für Bruder Malachi brach eine Welt zusammen.
    »Ein verderbter Text hätte zwischen sinnlosen Wörtern, die falsch abgeschrieben sind, auch einige, die einen Sinn ergeben würden. Da, nirgendwo auch nur eine einzige sinnvolle Silbe.« Abraham zeigte mit dem schwieligen Finger auf die Reihen von Lettern auf der Seite. Seinem Auge entging nichts, weder der Kummer noch der Schreck, die sich auf Bruder Malachis Gesicht die Waage hielten.
    »Und eine Geheimschrift?« Malachi griff nach dem letzten Strohhalm.
    »Ja, wer weiß? Kann sein. Aber viele Lettern sind nicht einmal richtig geschrieben. Seht Euch die hier an. Es ist, als hätte man ein ›m‹ mit fünf Bögen geschrieben – das hier hat drei, dort wiederum vier. Meiner Meinung nach hat der Kopist nicht gewußt, was er tat.«
    »Aber die Diagramme – die Rechtecke, die Pentagramme?« Bruder Malachi klang jetzt verzweifelt. So geht es immer, dachte Abraham. Wie traurig, es ihnen schonend beibringen zu müssen. Kein Wunder, daß sich das niemand außer mir zutraut. In der Kunst bringe ich es noch zum Meister.
    »Ich werde die Lettern transkribieren. Vielleicht findet Ihr ja einen Anhaltspunkt für eine andere Sprache – eine, die ich nicht kenne.«
    Bruder Malachi legte die Ellenbogen auf den Tisch; er barg das Gesicht in den Händen.
    »Eine Fälschung – ein Schwindel. Wer hätte das gedacht. Ich, ausgerechnet ich, muß auf einen gefälschten Stapel Papier hereinfallen. Aber irgendwie liegt eine gewisse Gerechtigkeit darin. Es muß in Gottes Absicht gelegen haben.«
    »Warum sagt Ihr das?« fragte Abraham, der kaum jemanden die Nachricht so gelassen hatte aufnehmen sehen. An dieser Stelle wurde manch einer gefährlich.
    »Wegen meines Gewerbes – hm – meines früheren Gewerbes, meine ich, ehe ich sozusagen Wollhändler wurde.«
    »Und welches war das?«
    »Ich habe Ablaßbriefe verkauft«, sagte Bruder Malachi, dann blickte er das schöne Buch an und fing an zu lachen. In Abrahams Augen funkelte es, denn ihm ging die Ironie des Ganzen auf, und dann fing auch er an zu lachen.
    Malachi wollte sich halb totlachen, bis ihm die Tränen in die Augen traten und er nach Atem ringen mußte. Fast war es, als schluchzte er, doch Lachen war selbstverständlich viel besser als Weinen. Und während Malachi lachte, schüttete sich Abraham aus vor Lachen. Für ihn war das Leben in Avignon auch nicht gerade ein Spaß gewesen.
    »Danke«, sagte Bruder Malachi und trocknete sich die Augen.
    »Ich danke Euch«, sagte Abraham, der Schneider, und tat es ihm nach. »Soll ich Euch jetzt etwas transkribieren?«
    »Kann ich morgen wiederkommen? Ich muß mir Bewegung verschaffen und ein wenig

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