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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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geheimnisvolles Gefuchtel, seltsame Gesänge und anderes, was meiner stets schöpferischen Phantasie so einfällt. Sie haben alles geschluckt. Die Gier hat sie verblendet. So ist das häufig.«
    Hilde setzte sich hin und schüttelte verwundert den Kopf. »Oh, Malachi, lieber Malachi«, sagte sie. Er blickte sie an und schien zu fürchten, sie könne sich zu einer scharfen Bemerkung hinreißen lassen, weil er ein solches Risiko auf sich genommen hatte. Sie sah jedoch den Blick, lächelte und sagte:
    »Oh, Malachi. Was für ein Philosoph du doch bist.« Worauf er mit einem strahlenden Lächeln antwortete.
    Ich wartete, bis der holde Augenblick vorbei war, dann unterbrach ich sie mit etwas, das mir schon des längeren auf der Seele lag.
    »Malachi«, fragte ich, »habt Ihr ehrlich gesagt, daß es sich um einen alchimistischen Text handelt? Vielleicht solltet Ihr erst die Abmachung treffen und ihn danach zeigen.«
    »Bislang habe ich ihn noch niemand gezeigt, doch anscheinend wissen alle Bescheid. Und schon schicken sie mich ein Haus weiter.«
    »Angenommen, sie wissen, daß Ihr im Besitz des Geheimnisses seid? Dann denken sie doch, wenn sie es für Euch übersetzen, möchtet Ihr am Ende keinen Mitwisser haben –«
    »Ja, gut gesprochen. Wäre ich ein Mensch wie der Graf, ich könnte einfach einen Mörder auf sie ansetzen. Ein Unfall auf der Straße, ein Feuer – Nein, angenommen, ich hätte Angst, daß sie plaudern? Da könnte ich mir die Sippschaft vom Hals schaffen wollen. Ja. Das ist klar. Kein Wunder, daß niemand Hebräisch lesen kann. Ich muß ihnen Bürgschaften geben – meine Aufrichtigkeit beweisen –« und schon war er wieder dabei, phantasievolle Pläne zu schmieden.
    »Malachi, du mußt dich beeilen«, sagte Hilde. »Viel länger können wir hier nicht verweilen. Weißt du eigentlich, daß Hugo versucht, Geld aufzunehmen? Wir meinen, er hat das Geld für die Überfahrt nach Haus vergeudet. Margaret hat ihn gefragt, und da wurde er sehr ausfallend. ›Ich bin der Erbe von Brokesford und muß wie ein Ritter auftreten. Soll ich etwa wie ein Bauer leben?‹ Er hat seine Männer nicht bezahlt, und so sind zwei verschwunden. Sie sollen sich dem Erzpriester angeschlossen haben. Der Rest ist treu gesinnt, wenigstens jetzt noch. Doch je eher wir aufbrechen, desto besser.«
    »Dieser verdammte Strohkopf! Kaum zu glauben, daß er mit Gregory verwandt sein soll. Wahrscheinlich hat er das Geld für die Überfahrt am Spieltisch verloren. Soviel Verstand wie eine ersäufte Ratte! Wahrscheinlich rechnet er damit, daß er sich als bewaffneter Begleiter an eine Reisegesellschaft verdingen kann, die in unsere Richtung zieht. Reisige sind dieser Tage Mangelware, er kann also jeden Preis fordern. Aber wir – wir können nicht zu diesem Mittel Zuflucht nehmen. Es ist ihm durchaus zuzutrauen, daß er ohne uns aufbricht.«
    Jetzt drückte Malachi noch eine Sorge mehr. Als ich in dieser Nacht aufstand, um nach Gregory zu sehen, dessen Fieber grundlos anstieg und wieder fiel, hörte ich ihn murmeln:
    »Geld, Geld. Ich brauche Geld. Hirn, Hirn, streng dich an. Gilbert, hör um Gottes willen mit dem Gestöhne und Gebrabbel auf.
    Du störst meine Gedanken.« Und dann hörte ich das Bett knarren und wußte, daß er sich aufgesetzt hatte und stundenlang ins Dunkel starren würde.

    Abraham der Schneider ließ sich nicht hinters Licht führen. Er hatte eine gute Nase für drohendes Unheil. Darum war er auch schon reisefertig und unterwegs gewesen, als man das jüdische Viertel in Marseille in Brand steckte. Er selber führte das Maultier, das seine Frau, seine Habe und zwei Kleinkinder in Tragekörbchen trug, die ganze Nacht lang im Schein der Sterne, die nichts sahen. Als er erst die Straße nach Avignon erreicht hatte, drehte er nicht mehr den Kopf, selbst nicht auf dem Abhang gleich außerhalb der Stadt, als er den schwachen Widerhall ferner Schreie hinter sich hörte. Sein ältester Sohn, ein Knabe von gerade zehn Lenzen, der mit einem langen Stab und einem Bündel genau wie seines neben ihm ging, hatte sich umgedreht und gerufen: »Oh, Vater, sieh nur«, war stehengeblieben und hatte die Feuersäulen angestarrt, die in den nächtlichen Himmel loderten. Doch der alte Mann hatte den Rücken noch tiefer gebeugt und den Weg mit eiserner Miene fortgesetzt.
    Jetzt stand da ein Fremder, der ein Buch übersetzt haben wollte. Er musterte den Mann vorsichtig und ging im Geist seine Prüfliste durch. Kein Reisiger; kein Bösewicht; kein

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