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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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ihm dabei bedauerlicherweise die vielen Leiber in dem Zimmer in die Quere kamen.
    Als die schwere Tür aufging, verwunderte sich Gregory nicht, daß man ihn haben wollte. Als Letzter geboren, als Erster gehäutet, dachte er. So geht es immer in dieser Familie. Als sie das Ritual durchgingen und ihm die Folterwerkzeuge zeigten, sagte er spöttisch: »Gewiß doch. Was soll ich Euch gestehen?«
    »Die Wahrheit«, sagte der Abt, reichte Frere Guillaume die Leine und roch an seiner Ambrakugel.
    »Das kann ich auch ohne das ganze Zeug da«, sagte Gregory und wies auf die bescheidene, doch sehr moderne Sammlung von Wahrheitsbeschaffern. Der Abt sprach mit seinen Mönchen in Latein.
    »Soviel ich weiß, habt Ihr gesagt, er wäre der Feigling.« Gregory bekam rote Ohren, sagte aber nichts.
    »Ich finde, Ihr nehmt uns nicht ernst genug«, sagte der Abt und wandte sich wieder Gregory zu.
    »Ganz im Gegenteil, ich nehme Euch überaus ernst«, antwortete Gregory.
    »Dann sagt uns, wie Ihr hierhergefunden habt.«
    »Das habe ich doch schon gesagt. Wir sind dem Erzpriester an der Rhône oberhalb von Avignon entkommen.«
    »Das ist gelogen. Keiner entkommt dem Erzpriester«, gab der Abt zurück und gab das Zeichen für den nächsten Grad der Befragung. Gregory war ein wenig zu lang für das Streckbett, und so dauerte es ein Weilchen, bis man ihm alles angepaßt hatte.
    »Meiner Treu, ist der aber knochig«, meinte einer der sich abmühenden Brüder in Latein, als er die nackte Gestalt musterte.
    »Ein regelrechter Hungerleider«, pflichtete ihm sein Kollege bei. »Diese Räuber aus dem Bauernstand sind doch alle gleich – keinerlei Muskeln. Aber der andere sieht mir stämmiger aus. Es würde mich gar nicht wundern, wenn der wirklich von Adel wäre.« Vor Wut lief Gregory am Hals rot an, dann schoß ihm die Röte ins Gesicht. Wenn er eine empfindliche Stelle hatte, dann Blutlinien und die gerechte Ordnung des Universums.
    »Seht Ihr das«, sagte Frere Guillaume zu seinem Herrn, »ich glaube, der Kerl versteht Latein.« Der Blick des Abtes huschte über Gregorys hochrotes Gesicht.
    »Jetzt wird es in der Tat interessant«, sagte der Abt und roch erneut an seiner Ambrakugel. »Ein abgefallener Priester vielleicht. Dieser Tage schließt sich den écorcheurs Abschaum aller Arten an.« Er durchquerte den Raum, beugte sich zu Gregory hinunter und sagte in Latein:
    »Sagt mir, wer Euer Herr ist.« Er winkte gedankenverloren, und die Höllenmaschine wurde um ein Rad weiter gedreht.
    »Der Herzog von Lancaster.«
    »Aha. Schon besser. Der englische Herzog. Und was tut Ihr hier so fern der Normandie? Und warum sollten wir Euch nicht allein schon dafür den Behörden in Dijon überantworten?«
    »Weil wir mit einem päpstlichen Geleitbrief reisen. Und dann, warum Dijon? Liegt Paris nicht näher?«
    »Paris? Wißt Ihr nicht, wo Ihr seid?«
    »Nicht so recht. Wir konnten nicht weiter mit der Gesandtschaft reisen, da die Herrin, meine Frau, zu völlig unpassender Zeit in die Wehen kam. Wir haben uns solange versteckt, bis sie niedergekommen war, und haben dann einen Bogen um die écorcheurs gemacht. Wir dachten, wir hätten uns nordwestlich gehalten.«
    »Ihr seid in St. Michel Archange in Burgund.«
    »Burgund? Mein Gott. Dieser verfluchte Malachi. Er hat gesagt, er kennt sich in der Gegend aus.« Dem Abt fiel etwas Glitzerndes ins Auge. Ein versilbertes Medaillon von geringem Wert, das auf dem knochigen Oberkörper des écorcheur lag. Er erkannte es – eines von Tausenden, wie sie der Papst jedes Jahr segnete. Ein Pilgerandenken. In der Abtei gab es mehrere von der Sorte.
    »Wem habt Ihr das gestohlen?«
    »Nicht – gestohlen. Hat – man – mir als – Glücksbringer – für die Reise – geschenkt. Glück – haha.« Der Abt blickte von seiner Arbeit auf, als hinter ihm diskret gehüstelt wurde. Ein Laienbruder war mit einer Botschaft hereingekommen und unterhielt sich leise mit ihm. Gregory bekam ein paar Worte wie Beichte und Frau mit und daß der Abt jetzt etwas lauter sagte: »Ein eigenartiger Name, das. Nicht von der Art, wie sie bei seinesgleichen beliebt ist. Eher hätte man einen Heiligennamen erwarten dürfen –« Gregory spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Margaret. Sie hatten ihr wehgetan. Der Abt begab sich wieder an die Arbeit.
    »Ihr seid ein Spion des englischen Herzogs?«
    »Nein – welcher Spion – nimmt schon – seine schwangere – Frau mit?«
    »Wer seid Ihr dann?«
    »Sein Chronist.« Die behandschuhte

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