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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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den Geschehnissen kundtun. Groß von Nutzen war sie jedoch nicht; sie hatte noch weniger Ahnung als wir, wo wir uns befanden.
    Danach beschlossen wir, den Fluß ganz und gar zu meiden und uns ins Gebirge zu schlagen, wo wir der Sonne und den Sternen nach Norden folgen wollten. Bei Malachi hörte sich das einfach an, denn der behauptete, den Weg schon einmal gezogen zu sein, er stelle eindeutig eine Abkürzung nach Paris dar, und Hugo lachte und schlug ihn auf den Rücken, und das war denn auch das letzte Lachen für lange Zeit. Doch als wir auf bewohnte Dörfer stießen, wollten uns die mürrischen Bewohner keine nützliche Wegweisung geben, und ich fürchtete schon, daß wir uns hoffnungslos verirrt hätten. Aber Malachi sagte, er wüßte genau, wo er sich befände, und tat so zuversichtlich, daß wir Flüsse durchquerten und in der Richtung, die er uns wies, über Felsenpässe kletterten, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Mir aber stand bei all diesen Unbilden die heilige Jungfrau Tag und Nacht zur Seite, so daß meine Milch nicht versiegte und der kleine Wanderer nicht verhungern mußte.
    Als wir die Berge endlich hinter uns ließen und sich vor unseren Augen ein üppiges, bestelltes Tal auftat, da wußten wir, daß wir den Pfad des Irrens hinter uns gelassen hatten. An einer Biegung des grünen, rasch fließenden Flusses, der sich durch das Tal schlängelte, ragten die Mauern und Türme einer blühenden Stadt empor. Nein – keine Stadt. Als wir dem Glockengeläut folgten, das über die Felder hinwogte, konnten wir über den Mauern die Kirchtürme und Kuppeln eines riesigen Klosters ausmachen, das uns willkommen hieß wie das himmlische Jerusalem. Wir ritten durch das kleine Dorf und machten vor dem großen Portal halt, schmutzig und abgerissen wie wir waren. Hugo in seiner eingebeulten und schwarz angelaufenen Rüstung beugte sich im Sattel vor und klopfte an das Gitter, um unsere Ankunft zu melden. Das Gitter ging auf, und ein argwöhnisch spähendes Gesicht lugte zur Hälfte heraus.
    »Wer seid Ihr?« fragte eine Stimme auf Französisch, zwar mit starkem Akzent, aber doch in der langue d'oil . Ei, dachte ich, müssen wir einen langen Weg zurückgelegt haben, wenn wir bereits im Norden angelangt sind.
    »Wir gehören zu der päpstlichen Gesandtschaft, die auf dem Weg nach Paris vom Erzpriester vernichtet wurde. Im Namen Gottes, habt Erbarmen mit uns.« Hinter dem Portal berieten sich Stimmen in Latein. Mich dünkte, ich hörte Worte wie » Normannen – Engländer « oder so ähnlich, dann rief die erste Stimme wieder durch das Gitter:
    »Ihr müßt geloben, daß Ihr unseren geweihten Boden unbewaffnet betretet.« Als wir uns damit einverstanden erklärt hatten, ließ man uns ein, und wir stiegen im Außenhof, im Schatten einer mächtigen Mauer ab, das heißt Gregory hob mich und den Kleinen aus dem blutgetränkten Sattel, ehe er mit den anderen seine Waffen abgab. Selbst die Messer zum Essen nahm man ihnen noch fort. Zu solch gefährlichen Zeiten konnten die Mönche kein Risiko eingehen, nicht einmal mit ihrer Gastfreundschaft. Während die Pferde in die Ställe geführt wurden, brachten uns Laienbrüder zu einem niedrigen Haus aus Stein, das sich im Schatten des Torhauses an die Außenmauer duckte. Es wirkte ausgesprochen bescheiden, dieses Pilgerhaus mit seinem Strohdach und den schmalen Fenstern ohne Läden. Und so wirkten auch die Leute, die im sonnenbeschienenen Dreck vor der Schwelle herumlungerten: Ein alter Soldat mit nur einem Bein schwatzte mit zwei uralten Kerlen, deren einzige Pilgerreise von kostenloser Unterkunft zu kostenloser Unterkunft führen durfte.
    »Mit Verlaub, was ist das? Ein Bettlerquartier? Seht her, Kerls, Ihr habt Euch in meinem Rang getäuscht. Wo ist Euer Haus für vornehme Gäste?« Hugos Stimme klang ganz schrill, so empört war er. Als er sich umdrehte und einen samten gekleideten Edelmann mit Schnabelschuhen erblickte, wie er sich zierlich einen Weg von den Ställen zu einem elegant aussehenden Gästehaus dicht bei der Kirche suchte, da schwoll ihm das Blut in den Adern am Hals.
    Die Brüder, die uns begleiteten, musterten erst das Gästehaus für den Adel. Darauf musterten sie Hugo von Kopf bis Fuß. Sie rümpften die Nase, wie es Franzosen tun, wenn die Soße versalzen oder der Wein voller Korkenstückchen ist. »Euer Rang?« sagte einer mit unverkennbar sarkastischem Ton. Unrasiert und schmutzig und in dem wattierten, rostfleckigen Waffenrock, den er unter dem

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