Die Vision
Hand gab noch einmal das Zeichen.
»Sein Chronist ?« Bruder Malachi sprach mit vollem Mund um den Kapaun herum. Er schenkte sich schon wieder aus einem von mehreren vollen Weinkrügen nach, mit denen der Tisch in dem behaglichen Haus für hochgestellte Gäste reich bestellt war. Das Haus duckte sich in den Schatten der riesigen, hoch gewölbten Abteikirche. Talgkerzen wehrten der Dunkelheit, und in der Herdstelle knisterte ein anheimelndes Feuer.
»Ja, das habe ich gesagt, und er sagte: ›Aha, ein Gelehrter. Das erklärt auch, warum Euer Sohn Peregrinus heißt. Ihr hättet ihn Fortunatus nennen sollen, denn er hat Euch zweimal das Leben gerettet.‹ Und dann waren wir, oh, ein Herz und eine Seele. ›Ihr werdet doch in Eurer Chronik nicht schlecht über mich schreiben, oder?‹ ›Ich bin ein großherziger Mensch‹, sage ich. ›Ich kann alles vergeben, wenn man mich gut behandelt. Meine Frau ist beispielsweise sehr müde und hungrig und hat nichts mehr anzuziehen.‹ Er sieht besorgt aus. ›Der Herzog dürfte wissen, wo Ihr Euch befindet.‹ ›Natürlich weiß er das, ich mache ihm regelmäßig Meldung‹, sage ich. ›Ich kann Eure Gedanken lesen, nichts davon, sie sind Eurer nicht würdig‹, füge ich noch hinzu, ›Äbte, die einen Chronisten erschlagen, sind bis in alle Ewigkeit gebrandmarkt. Dafür sorgt die Bruderschaft der Gelehrten. Ihr als gebildeter Mann wißt sicher, wie das vor sich geht. Ist ewiger Ruhm da nicht besser?‹ ›Ich habe selber einen Chronisten‹, knurrt er. ›Angenehm für einen guten Ruf zu Hause‹, sage ich, ›aber es würde mich wundern, wenn Ihr in einer der wirklich großen Chroniken auch nur mit einer Zeile erwähnt würdet. Mein Herzog aber ist Fürst in zwei Nationen – in seiner Chronik vorzukommen lohnt sich. Ich könnte mir denken, daß Ihr einen ganzen Absatz erhalten würdet.‹ ›Einen?‹ fragt er. ›Das wird mir kaum gerecht.‹ ›Der Herzog von Burgund hat lediglich zwei‹, sage ich. ›Daran könnt Ihr ermessen, wie knapp der Platz in einer wirklich bedeutsamen Chronik ist.‹ ›Nur zwei?‹ sagt er und blickt ganz argwöhnisch. ›Wieviele hat denn der Abt von Cluny?‹ ›Der jetzige?‹ sage ich ganz unschuldig. ›Ei, der hat nicht einmal eine halbe Zeile, und das nur im Zusammenhang mit dem Herzog.‹ Seine Augen werden schmal, und er denkt ein Weilchen nach, dann sagt er: ›Ich will drei‹, und da wußte ich, er hatte angebissen. ›Ich bin viel mehr wert als der Herzog von Burgund, mein geistlicher Ruf, Ihr versteht‹ –«
»Kostet diesen Wein, Sir Hugo«, kam Bruder Malachi dazwischen und nahm Sim die Flasche weg.
»Dieser Fasan ist ausgezeichnet«, verkündete Hugo und wischte sich den Mund mit dem Tischtuch. »Probiert einen Bissen, alter Fuchs«, und Hugo tauschte den Vogel gegen den Wein ein. »Das macht die Soße. Auf Soßen verstehen sich diese Franzosen wirklich.« Er unterdrückte einen wohltuenden Rülpser. »Also, ich für meinen Teil habe dem Mann angeboten, eine Dankesode auf ihn zu dichten, aber er hat gesagt, das wäre des Guten wirklich zuviel und hat gebeten, daß Gilbert und ich uns sein Skriptorium ansehen. Und seine Bücherei. Von oben bis unten voller Bücher – kein Wunder, daß diese Ausländer allesamt eine weiche Birne haben. Morgen müssen wir uns seine heilige Quelle und seine Sammlung von Schreinen ansehen, und auch das Wasserrad, das er für seine Mühle hat bauen lassen. Das größte in der ganzen Gegend, so sagt er. Was für ein Schaumschläger.« Robert, der dem Wein tüchtig zugesprochen hatte, ließ nun auch vom Essen ab, lag an die Wand gelehnt, zupfte mißtönend seine Laute und sang:
›Dû bist nûn mîn, ich bin dîn,
Des solt dû gewis sîn .. .‹
»Trinken wir auf Clio, die Muse der Geschichte«, schlug Bruder Malachi vor und schenkte sich nach.
»Und was ist mit Erato?« begehrte Hugo beinahe kläglich auf.
»Auf die auch«, sagte Gregory, »obwohl sie eine lästige Geliebte sein kann.«
»Geliebte? Und dabei dachte ich, du wärst ein langweiliger Ehemann«, sagte Hugo mit schwerer Zunge.
»Bin ich auch«, erwiderte sein Bruder. »Wenn sie mir doch nur Kunde von Margaret bringen würden, wie ich gebeten hatte. Das ist die einzige Schwierigkeit hier. Die nehmen es mit der Trennung der Geschlechter peinlich genau. Habe ich euch schon erzählt, daß wir morgen oben am Tisch zur Rechten des Abtes speisen? Zumindest die Lateinisch Sprechenden. Du sitzt oben am Gästetisch, Hugo. Nein, nein –
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