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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Unterrichtsstunden in Symbolik genommen habe? Der Trick ist, daß sich die Symbole reimen. Ich hätte wohl noch mehr Unterricht nehmen sollen. Habe ich dir erzählt, daß er zu Petrarcas Füßen gesessen hat?«
    »Mehr als einmal, Hugo.« Statt sich zu grämen, wurde Gregory immer gereizter. Hugo blieb Hugo, bis zum bitteren Ende.
    »Also – humta, humta – tatata – hm. Zuerst muß man das Versmaß hinbekommen. Habe ich dir schon gesagt, daß man für Gedichte ein Versmaß braucht?« Gregory biß die Zähne zusammen.
    »Bruder, ich versuche meine Seele von lebenslanger Sünde zu reinigen, indem ich dir beichte. Kann das Gedicht nicht warten?«
    »Beichten? Wieso denn? Du führst dich auf wie ein Verurteilter. Also – was reimt sich auf Vogel, nein, besser auf oiseau? «
    Die Lauscher vor dem Spalt beugten sich vor. Der kleine Luftschacht in der Zelle war beinahe unsichtbar, doch jedes Wort, das ein Gefangener sprach, war in dem winzigen Raum dahinter zu hören.
    »Psst! Er will beichten!«
    »Aber müssen wir das Gedicht auch aufschreiben?«
    »Der Abt hat gesagt, wir sollten sie nach der ersten Befragung zusammenstecken und alles aufschreiben. Er will ganz sichergehen. Du schreibst das Gedicht auf, ich die Beichte.«
    »Immer ich – das Gedicht ist gräßlich.«
    »Nicht meine Schuld, oder?« Und zwei Griffel schwebten über den Wachstafeln, derweil Hugo es noch einmal versuchte, nachdem er oiseau gegen hirondelle ausgetauscht hatte.
    »Bruder ich habe dich beneidet, weil du der Erstgeborene warst. Bitte, vergib mir.« Gregorys Stimme klang ernst. Einen ganzen Monat hatte er sich damit herumgequält und die Sünde von mehreren Gesichtspunkten aus betrachtet, die theologisch allesamt interessant waren.
    »Der Erstgeborene? Klar hast du mich beneidet. Wieso auch nicht? Ist doch nur recht und billig. Ich bekomme den Titel, du gar nichts. So ist das nun einmal. Und so wird es immer sein. Du hast es nie verstanden, dich mit dem Unvermeidlichen abzufinden. Mir meinerseits ist das schon vor langer Zeit aufgegangen, und ich beneide dich nicht mehr.«
    »Neid? Du und neidisch?« Vor Schreck verflog Gregorys gedrückte Stimmung.
    »Klar doch. Ich habe dich um deine Freiheit beneidet. Glaubst du etwa, es ist ein Vergnügen, bei einem knauserigen, alten Tyrannen wie Vater Mädchen-für-alles zu spielen? Und als du das ganze Geld geheiratet hast, ohne dafür in den Krieg ziehen zu müssen, da bin ich fast durchgedreht vor Neid. Zum Glück ist er verflogen wie eine Krankheit. Und jetzt habe ich meine Muse gefunden – welche Muse, sagtest du, ist die Poesie?«
    »Für deine Art von Poesie? Vermutlich Erato.«
    »Aha, die Muse also. Sag, weißt du nicht einen anderen französischen Vogel, hirondelle inspiriert mich nicht gerade. Was hältst du von alouette?«
    »Nun, haben sie etwas preisgegeben?« sagte eine kultivierte Stimme hinter den Lauschern.
    »Mon Seigneur Abt!« Die Lauscher fuhren herum. Da stand nun in der Tat Abt Thibault höchstpersönlich in voller Jagdausrüstung, eine Ambrakugel in der behandschuhten Hand, um sich gegen den Gestank dieses Ortes zu schützen. In der anderen hielt er eine Leine, mit der er ein Paar englische Doggen in Schach hielt. Hinter ihm trippelten sein Lieblingswindhund und sein Privatsekretär, Frere Guillaume. Bei so viel Neuankömmlingen, Mensch und Tier gleichermaßen, herrschte in dem schmalen Raum hinter der Mauer drangvolle Enge.
    »Einer von beiden – der Dunkle – will beichten, aber der andere will ihn nicht zu Wort kommen lassen, weil er gerade ein Gedicht macht.«
    »Ein Gedicht? Bei Gott, der Mann hat sang froid. Nehmt Euch den Feigling zuerst vor. Wir müssen die Sache beschleunigen.« Die Ambrakugel machte eine matte, kreisförmige Geste. »Wir müssen herausfinden, für wen sie spionieren, ehe uns ihre Kumpane über den Hals kommen. Würde mich gar nicht wundern, wenn es der Erzpriester selber wäre, der seine Kriegskasse mit den Bestechungsgeldern des Heiligen Vaters aufgestockt hat. Da er den Heiligen Stuhl verschont hat, dürfte er hungrig sein« – er hielt inne und prüfte die Notizen des Schreibers, dann sagte er zu seinem Sekretär gewandt: »Wie gut, daß dieser Prahlhans ihre Pläne verraten hat. Ich bin gern gewarnt, wenn ich mich schon auf einen Angriff mit Belagerungsmaschinen vorbereiten muß. Frere Guillaume, habt Ihr angeordnet, daß man die Wachen verdoppelt?«
    »Ja, natürlich, Mon Seigneur Abt.« Frere Guillaume verneigte sich beim Sprechen, obwohl

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