Die Vision
sehr über mich wundern. Also wiederholte ich ihr die Worte der Weißen Dame, denn sie konnte sie nicht so deutlich hören wie ich.
Die arme Dorftrine, die man mir geschickt hatte und die Gott-weiß-was für einen Dialekt sprach, kauerte in der anderen Ecke so weit wie möglich von der feuchtnebligen Weißen Dame entfernt und zitterte und weinte. Offen gestanden, mit der war nichts anzufangen. Was war nur in die Mönche gefahren, daß sie mir solch ein rückgratloses, unnützes Geschöpf als Hilfe geschickt hatten? Keine Ahnung. Und von dem, was wir sagten, schien kein Wort in ihren Schädel zu gehen.
»Also, habe ich das richtig verstanden? Ihr seid in Burgund?«
»Ja, Madame Belle-mere.« Ich konnte das Wandbild – die klugen Jungfrauen mit ihren angezündeten Lampen – geradewegs durch sie hindurch sehen, denn sie wirkte längst nicht mehr so hitzig und erregt wie früher.
»Gut, das fügt sich ausgezeichnet. Meine Schwester, die, welche sich so gut verheiratet hat, lebt in Brabant. Sie hat ein prächtiges, großes Haus und nimmt Verwandte immer sehr gastfreundlich auf. Dorthin müßt Ihr gehen. Vom Hof zu Hainault gehen viele Boten dorthin und auch zurück, Ihr könnt also leicht auf diesem Wege heimkehren. Verstanden? Es ist wirklich ganz einfach.«
Mir wollte das gar nicht so einfach erscheinen, aber ich widerspreche Madame Belle-mere grundsätzlich nicht. Sie war es zufrieden und ging wie üblich ihrer Wege. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie schien mir ausgesprochen dünner, oder besser gesagt, flüchtiger und hatte sich seit dem Zwischenfall mit dem gräßlichen Grafen nicht mehr halb soviel manifestiert.
»Sie ist fort, Margaret. Laß uns das Gericht kosten, das Gregory uns geschickt hat. Ei, waren diese Laienbrüder nicht komisch! Ich kann mir schon denken, warum sie immer paarweise auftreten, sie sind sich gegenseitig Schutz und Trutz vor uns.« Sie hielt ein glattes Steinchen mit winzigen Farbeinschlüssen hoch. »Sieh dir das an, Margaret, das ist ein neuer. Sie haben innerhalb der Mauer, nahe beim Dorfeingang, eine heilige Quelle mit einem prächtigen Schrein darüber, an dem überall Krücken von Verkrüppelten hängen, die durch dieses Wasser geheilt wurden. Malachi hat sie mir heute nachmittag gezeigt, als er und diese Laienbrüder mich zu den Reliquien in der Kirche begleitet haben. ›Gut, gut, Malachi‹, habe ich zu ihm gesagt, ›als ich dir erzählt habe, daß ich gern reisen und neue Orte und Menschen kennenlernen möchte, da habe ich nicht diesen Ort und diese griesgrämigen Brüder gemeint. Aber da sich alles zum Besten gewandt hat, möchte ich ein Andenken haben.‹ Und so habe ich diesen kleinen Kiesel mitgenommen.«
Wenn ich doch auch hinauskönnte, dachte ich. Die scheinen der Meinung zu sein, ich muß das Bett hüten. Und weil ich noch nicht ausgesegnet bin, wollen sie vermutlich nicht, daß ich durch die Gegend laufe. Wenn sie mich hier noch länger einsperren, muß ich wohl einen weiteren Wutanfall bekommen. Die sind weitaus erquicklicher, als ich mir hätte träumen lassen. Ich merke schon, man kann sich richtig daran gewöhnen.
»Denk nur, Mutter Hilde«, sagte ich, »wenn nun jeder Pilger einen Kiesel mitnimmt, dann liegt die kleine Quelle in hundert Jahren kahl und bloß da.« Ich mußte sie einfach ein wenig aufziehen.
»O nein, Margaret«, versicherte sie mir. »Gott läßt neue Steine wachsen, damit jeder einen bekommt. Aber jetzt koste einmal von dem Würzwein, den der Abt geschickt hat. Der ist sicher gut für deine Milch.«
»Nicht so gut wie Ale, Mutter Hilde, und das weißt du sehr wohl. Ach, wenn ich doch schon zu Hause wäre.«
»Oh, ich weiß nicht so recht«, sagte Mutter Hilde mit gedankenverlorenem Blick. »Jetzt, wo alles gut geendet hat, würde ich gern noch ein paar neue Orte sehen. Und wer weiß? Vielleicht, eines Tages – China.«
»Mutter Hilde, du bist unverbesserlich.«
»Hältst du mich für schlecht? Warte nur, bis du so alt bist wie ich, Margaret – warte nur.«
Mitten in der Nacht hörte ich einen Laut, wie ihn Lion, mein Hund, macht, wenn er an der Tür kratzt und Einlaß begehrt.
»Lion, geh weg, ich schlafe«, murmelte ich und drehte mich in dem schönen, weichen Federbett um, das Mutter Hilde und ich teilten. Das Einschlafen fiel mir schwer. Das Dorfmädchen, das am Fußende lag, schnarchte so. Und sie schlief wie ein Klotz, so daß nicht einmal das Weinen des Kleinen sie aufwecken konnte. Genau die Art Mädchen, welche
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