Die Vision
es wagen!« Aber Hugo war zweimal so groß wie ich und durchaus fähig, mir ein, zwei Knochen zu brechen. Ich durfte ihm nichts vorenthalten. Derweil war auch sein Vater hinter ihm aufgetaucht. Schweigend und mit verschränkten Armen wartete er mit grimmiger und strenger Miene hinter Hugo.
»Her damit, Madame«, wiederholte Hugo. Ich griff unter meine Röcke, die ich auf der Fensterbank über das Papier gebreitet hatte, und reichte ihm eines der Blätter, ohne mich jedoch vom Fleck zu rühren.
»Schlimmer als ein Liebespfand. Geschriebenes.« Hugo nahm das Blatt, blinzelte und drehte es gegen das Licht hin und her. »Zweifellos ein Liebesbrief.« Er sah hart und kalt aus. Schließlich ging es um die Familienehre. Dann streckte er das Blatt dem alten Mann hin: Sir Hubert musterte die Seite und zog die weißen, buschigen Brauen zusammen.
»Hmm. Abscheuliche Handschrift, das da. Kann keinen einzigen Buchstaben entziffern. Holt den Priester.« Man schickte einen Jungen nach ihm, und er kehrte schon bald mit Vater Simeon zurück. Sie hießen ihn auf der anderen Fensterbank mir gegenüber Platz nehmen und blickten ernst, als er das Blatt musterte und dann las:
»Wer die Farben von verschossenen Kleidungsstücken auffrischen will, muß diese in verdünntem Obstessig einweichen und alsdann in die Sonne hängen. Ich weiß nicht, ob das hilft, aber Mistress Wengrave schwört darauf.
Wer keine Fliegen im Palas haben will, muß Farnwedel mit den Blättern nach unten an der Decke aufhängen. Wenn sich die Fliegen darauf niedergelassen haben, wirft man sie weg…«
Er blinzelte das Papier immer noch an. »Das sind Rezepte, Mylord, Haushaltsrezepte. Nirgendwo etwas von Liebe. Vielleicht hat sie die selber geschrieben. Die Handschrift gleicht in nichts der eines Gelehrten.«
So dumm bin ich nun auch wieder nicht, daß ich mein Geschriebenes dem Feind überantworte. Das echte Blatt, das ich beschrieben hatte, war immer noch unter meinen Röcken verborgen. Ich habe immer ein falsches dabei, nur für Überraschungen wie diese hier. Wie gut, daß ich Schwarz trage, dachte ich, sonst hätte ich von diesem ganzen Papiergeraschele noch einen häßlichen Tintenfleck im Kleid bekommen. Sir Hubert fixierte meine Hände, die ich im Schoß gefaltet hielt.
»Streckt sie aus«, sagte er ruhig. »Wie ich mir gedacht habe. Tintenflecke. Was auch immer Ihr seid, Madame, eine Dame seid Ihr offensichtlich nicht. Aber in diesem Haus benehmt Ihr Euch wie eine. Händigt dem Priester Tinte und Papier aus. Wenn Ihr noch mehr Rezepte aufschreiben wollt, dann diktiert Ihr sie ihm vor Zeugen. Ich möchte nicht den leisesten Verdacht aufkommen lassen, daß Ihr Schande über mein Haus bringt. Und was das Lesen angeht, haltet es wie die Königinnen von England und Frankreich und die großen Damen bei Hofe. Wenn die etwas Schriftliches erhalten, zieren sie sich ganz furchtbar und tun so, als ob sie es nicht lesen könnten, lassen das Siegel erbrechen und es sich vor Zeugen von einem Schreiber vorlesen. Auf diese Weise wahrt eine Dame die Ehre ihres Hauses. Und ich erwarte, daß Ihr Euch unter meinem Dach genauso benehmt, was auch immer mein zweiter Sohn, der mit dem Spatzenhirn, dazu sagt. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Was konnte ich anders tun, als zu nicken und Tinte und Papier zu übergeben. Dabei durfte ich mich nicht vom Fleck rühren, damit ich nicht das immer noch unter meinen Röcken verborgene Blatt verlor. Denn wenn sie das jemals zu Gesicht bekamen, ich weiß nicht, wie es mir ergehen würde.
Margaret wartete, bis sie die breiten Rücken der beiden Männer in der Tür oben an der Stiege verschwinden sah, dann erst faltete sie verstohlen das Blatt Papier zusammen, das ihr geblieben war. Hastig durchquerte sie das Zimmer und kniete sich vor die kunstvolle Truhe, welche man ihr aus ihrem alten Haus mitgebracht hatte, und versteckte es. Die Truhe kam aus fremden Landen und war kunstvoll gearbeitet, denn unter einem falschen Boden verbarg sie ein Geheimfach. Master Kendalls Haus war voll von solch merkwürdigen Vorrichtungen gewesen, da er großen Gefallen an Raritäten und Kuriositäten fand. Auch Margaret hatte zu seinen Kuriositäten gehört, doch der Verdacht war ihr nie gekommen. Kendall hatte einen Konkurrenten in Deutschland, der eine juwelengeschmückte Statue des Heiligen Georg mit dem Drachen besaß, die so zierlich gearbeitet war, daß sie in eine Hand paßte. Dann war da noch ein Italiener, der eine märchenhaft gefertigte
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