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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Standuhr besaß, welche nicht nur die Stunden anzeigte, sondern auch die Planetenkreise; die hatte er um keinen Preis der Welt an Kendall verkaufen wollen. Aber Margaret war bei weitem das Kostbarste; mit einem Schlag hatte er sie alle ausgestochen. Ihre Gegenwart im Haus hatte ihn auf mannigfaltige Art entzückt; daß er sie erringen konnte, war der krönende Abschluß seiner Erwerbungen.
    Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er gewußt, was sie war. Etwas wie sie hatte er schon mehrfach auf seinen Reisen gesehen und war zu schlau, als daß er sich in ihr getäuscht hätte, auch wenn sich alles unter einem fadenscheinigen, rostbraunen Kleid und einem abgetragenen, geerbten Umhang verbarg. Als erstes waren ihm ihre Augen, die ein verirrter Sonnenstrahl ganz goldbraun aufleuchten ließ, und dann die eigentümliche Ruhe ihres Gesichtes aufgefallen. Dazu kam noch die Art, wie sie ging – eine geschmeidige Bewegung aus der Mitte heraus und irgendwie ausgewogen aufrecht, ohne jedoch steif zu wirken, und ihre Hände sahen so anmutig und geschickt aus. Es konnte gar keinen Zweifel geben; sie gehörte zu Ihnen, auch wenn sie es selbst nicht wußte. Welch köstliche Ironie, daß er eine von Ihnen in den Hintergassen der City in Gestalt eines noch nicht zwanzigjährigen Mädchens gefunden hatte.
    Selbstverständlich hatte er sie sich geschnappt und war dafür mit unzähligen Freudenstunden belohnt worden, denn er hatte ihre Streiche beobachten dürfen, so wie sie sich beispielweise abmühte, genau so zu erscheinen wie jedermann. Aber den meisten Spaß machte es, sie in allem gewähren zu lassen, nur um zu sehen, was sie anstellen würde: Geschmeide wollte sie nicht tragen, das war ihr ›zu kalt‹, aber sie stopfte sich mit Süßigkeiten voll wie ein Gassenjunge. Sie verschenkte alle Kleider, außer er verbot es ihr. Sie wollte unbedingt wissen, was in diesem steckte, wie jenes funktionierte, und so hatte er Madame eingestellt, nur um das komische Gesicht zu sehen, das sie bei den französischen Nasalen machte. Er hatte sie sogar gewähren lassen, als sie auf die abwegige Idee kam, Lesen und Schreiben lernen zu wollen. Und immer, wenn es ihm mit seinen Geschäften und seinen Geschäftspartnern allzu langweilig wurde, trieb sie auf der Straße einen Irren auf, den sie ins Haus holte und der sich dann nicht vertreiben ließ und alles so hinreißend auf den Kopf stellte. Das Kalte Ding seufzte. Seine Perlen vor die Säue geworfen. Und nichts daran zu ändern. Bitter. Bitter.
    Das Kalte Ding folgte Margaret die Stiege hinunter und bekrittelte, wie schlampig das Hausgesinde im Palas die Schragentische zum Essen aufgedeckt hatte. Es hüpfte durch den Raum und erschreckte die Hunde, die jäh auf jaulten und zu jedermanns Überraschung Reißaus nahmen. Es wehte in die Küche und bekrittelte das Essen, das dort gerade auf Platten angerichtet wurde. Einer der Küchenjungen, der heimlich eine Brotrinde in das Bratenfett tunkte, spürte einen kalten Hauch im Nacken und bekam die Gänsehaut. Dann wehte das Kalte Ding hinaus um nachzusehen, wie die Knappen das Fleisch aufschnitten – Robert war geschickt, doch Damien würde immer ein Dorftrampel bleiben –, schließlich ließ es sich gegenüber am Tisch nieder, weil es mitbekommen wollte, was für ein Gesicht Margaret machte, wenn sie ins Brot biß und feststellte, daß es sauer und klitschig war, weil der Sauerteig nichts taugte. Das Mädchen konnte vielleicht backen; sie hatte das einfach im Gefühl. Immer ging das Brot hoch auf und schmeckte süß. Und ihr Ale – ach, das allein schon hätte eine Ehe mit ihr verlohnt, selbst wenn sie nicht so hübsch gewesen wäre wie eine wilde Blume, die man ganz von ungefähr im Wald findet.
    Aha, jetzt brach sie das Brot – jetzt biß sie hinein. Das Kalte Ding lachte – eine Reihe von stummen, eisigen Windstößen. Nein, was für ein Gesicht sie machte, das allein lohnte schon das Warten. Sie tat so, als wäre alles in bester Ordnung, doch sie blähte die Nasenflügel, und ihre Augen blitzten einen Augenblick angeekelt auf. Jetzt hatte der alte Mann hineingebissen. Er knurrte: »Daran kann man sich ja die Zähne ausbeißen«, und warf den Rest seines Bissens den Hunden unter dem Tisch zu. »Ein Backhaus, das keinen anständigen Brotlaib hervorbringt. Verdammte Schande. Sollte sie alle auspeitschen lassen, vielleicht bringt sie das auf Trab«, murrte er unsicher in Richtung seiner Schwiegertochter.
    »Das kommt vom Wasser«, sagte die ganz

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