Die Vision
sagte der Maler und sah mich mit seinen eigenartigen, grauen Augen an und durch mich hindurch, so als ob das irgendwie alles erklärte.
Ich setzte mich also hin und schrieb mit Vater Simeon zur Seite einen Brief, den ich dreimal mit Wachs versiegelte, obwohl ich mich vorsah, etwas darin zu entdecken, was Gregory peinlich sein könnte.
An meinen wohllieben Ehegemahl, Sieur Gilbert de Vilers, Ritter, zur Zeit in Frankreich:
Herzliebster Herr, Ihr fehlt mir bei Tag und bei Nacht. Euer Hausverwalter schickt Euch Nachricht, daß die Ernte auf Eurem Land in diesem Jahr gut ausgefallen ist, doch die Kirschen sind vom Regen geplatzt. Den Mädchen geht es gut, und dem Vieh auch. Richtet Mylord, Eurem Vater, aus, daß nach seinem Aufbruch acht Fohlen auf Brokesford Manor geboren wurden. Ich lebe für den Tag Eurer Heimkehr. Wenn der Wind weht, höre ich Eure Stimme. Wenn es regnet, weine ich mir die Augen aus, so sehr fehlt Ihr mir. Ich küsse dieses liebe Papier, da es Euch meine Worte bringt.
Ich bete zu Gott und seinen Engeln, daß er Euch bewahrt und Euch eine gesunde Heimkehr gewährt. Eure Euch liebende Frau, Margaret.
Mein Gott, ich liebe ihn, dachte ich. Das zumindest soll er wissen, was auch immer geschieht. Ich bin das Warten so leid, daß ich mehr nicht begehre.
Der Maler sah dem Ganzen mit einiger Neugier zu, dann schob er den versiegelten Brief vorn in sein Gewand.
Als ich an jenem Abend zusah, wie der Mond aufging, da wurde mir klar, warum ich letztens immer so müde war. Ich war schwanger. Es muß in unserer allerletzten Nacht passiert sein, dachte ich, denn noch hatte sich das Licht nicht zurückgezogen. Am nächsten Morgen, im Morgengrauen, fand man Cis in der Küche in einer Lache aus Erbrochenem und Blut. Ich wußte sofort Bescheid, denn dergleichen hatte ich früher schon gesehen. Sie hatte etwas eingenommen, um das Kind loszuwerden, und es hatte sie beinahe das Leben gekostet. Ich ließ sie waschen und zu ihrem Strohsack in der beengten, kleinen Gesindekammer hinter der Küche tragen und entband dort vor einem Dutzend neugieriger Augen ein winziges Kindchen, nicht größer als meine Hand. Als der Kopf austrat, taufte ich es mit Wasser aus der Zisterne Gotteskind und hielt ihr die Hand, während sie einen ganzen langen Nachmittag vor sich hinschluchzte. Gott weiß, wie wenig uns trennt, uns Frauen. Ein wenig Geld. Ein paar Worte. Ein Stück Papier. Das Leben eines Mannes.
Mitte August, am Vorabend von Mariä Himmelfahrt, kam ein berittener Bote durchs Dorf geritten und begehrte am Haupttor Einlaß. Er trug ein recht abgewetztes Lederwams und einen Schuppenpanzer; sein Pferd war schaumbedeckt und sein Gesicht voll Dreck und Schweiß vom schnellen Ritt. Margaret ließ ihn in die Halle führen und bot ihm zu trinken an. Zwischen den Schlucken – er trank das Ale langsam, damit er, so überanstrengt wie er war, keine Magenkrämpfe bekam – erzählte er der zusammengelaufenen Schar, daß der alte Lord verwundet sei, die Wunde sich entzündet hätte und er heimkehre.
»Die Lanzensplitter stecken so tief, Madame, daß er weder gehen noch reiten kann. Aber sein Sohn begleitet ihn, denn den will er verheiraten, damit die Erbfolge gesichert ist, ehe er den Geist aufgibt. Er hat große, ritterliche Taten vollbracht; die werden unvergessen bleiben.«
»Und habt Ihr Kunde von Sir Gilbert, der sich im Gefolge des Herzogs befindet?« fragte Margaret ängstlich. »Wann kommt der heim?«
»Sir Gilbert?« Der Mann schwieg lange. Dann sagte er: »Sein Sohn, Sir Hugo, begleitet ihn. Der alte Mann fiebert und redet irre. Ihr sollt hier alles für ihn vorbereiten. Man sagt, der Verlust seines anderen Sohnes hat seinen Geist verwirrt. Hat ihm den Lebenswillen geraubt. Aber wieso, das weiß ich auch nicht. Einen hat er doch noch, und der ist sein Erbe, und damit besitzt er mehr als manch anderer –«
Margaret konnte nicht anders, sie schrie. Es glich dem unheimlichen, dünnen, spitzen Schrei, den ein Kaninchen nur angesichts des Todes ausstößt. Die dunklen Bögen des Rittersaals warfen den Schrei zurück, der nicht aufhören wollte, bis man sie nach oben brachte.
Kapitel 5
E s war eine trübselige Prozession, die sich da durch das Dorf zum Tor des Herrenhauses wand. Die Kolonne der abgerissenen Fußsoldaten löste sich auf, als sie die Schar der Dorfbewohner erreichte, die am Straßenrand stand. In das Jubelgeschrei über die glückliche Heimkehr mischte sich das Wehklagen derer, die soeben von ihrem Verlust
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