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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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langsam, doch stetig schneller.
    Und während er zusah, wie das dunkle Gewölbe des Palas hoch über der Bahre schwankte und bebte, da meinte er über dem schrecklichen Gehämmere und Geklopfe, mit dem das große Bett zusammengebaut wurde, etwas zu hören, eine klare Stimme, hell und stark, und die sagte:
    »Ich bin da.«
    »Durstig –« formten seine Lippen beinahe lautlos.
    »Ja«, sagte sie, und dann spürte er, wie Wein, kellerkühler Wein, über seine Zunge rann. Sie legte seinen Kopf auf das Kissen zurück, und dann fühlte er, wie die schweren Pelzdecken zurückgeschlagen wurden.
    »Weg da, ich habe den Baderchirurg von Bedford herbefohlen, und aus London kommt einer der Privatärzte des Herzogs.«
    »Der Arzt braucht viele Tage, bis er hier ist, und ich habe mehr Zutrauen zu Mutter Hildes Wissen als zu allen Baderchirurgen der Welt. Mit Verlaub, macht Platz und laßt mich sehen.« Ihre Stimme wußte sich Respekt zu verschaffen, und dann spürte er, daß die murrenden Männer sich verzogen und Platz machten und daß die Stimme wieder näherkam. Als die Decken weggenommen wurden, packte ihn erneut der Schüttelfrost, denn abgesehen von dem dicken Verband an seiner Seite war er unbekleidet.
    »Schmutzig«, sagte die Stimme, und er schrie, als der Verband abgenommen wurde.
    »Malkyn, den Topf aus der Küche und die frischen Tücher.«
    »Was tut Ihr da – seid Ihr so rachsüchtig, daß Ihr ihn auf diese Weise umbringen wollt? Ich sage Euch, Ihr seid des Todes, wenn Ihr ihm etwas antut.«
    »Einen heißen Umschlag«, sagte die Frauenstimme. »Der zieht das Gift heraus.« Hitze und Schmerzen wurden eins mit dem Gehämmere. Für einen Sarg? So bald schon ein Sarg? Wie lange würde er alles noch wie ein Ritter ertragen können, diesen Druck, diese Schmerzen? »Seht Ihr?« hörte er sie sagen, und dann schrie er wieder, als man ihm den Umschlag abnahm, und dann platzte innen etwas Gräßliches auf, quoll heraus, stank entsetzlich und verschaffte ihm eine unsägliche Erleichterung.
    »Bei Gott, das kommt ja literweise. Wieviel kann ein Mensch davon haben und überleben?«
    Jetzt sprach sie wieder. »Das weiß ich auch nicht. Seht her – hier ragt etwas Schwarzes heraus.«
    »Splitter. Splitter von der Lanzenspitze. Ich habe es von weitem gesehen. Er hat den Hieb schlecht mit dem Schild abgewehrt. Ist so gar nicht seine Art – ganz und gar nicht. Die Lanze ist hier, an der Kante des Brustharnisches abgeglitten – und die Splitter sind durch die Glieder des Kettenhemdes gedrungen. Es hat ihn abgeworfen – Damien und Robert haben den französischen Ritter gefangen genommen aber wer hätte gedacht, daß eine so kleine Wunde so schlimm werden könnte?«
    »Klein, aber tief – aha! Da ist er ja.«
    »Mindestens vier Zoll. Da ist noch einer.«
    »Ich habe ihn«, sagte sie. Und dann zog ihn eine unendliche Schwärze nach unten.
    »Jesus!« Der Schrei war furchtbar.

    »Tot. Ihr habt ihn umgebracht«, sagte Hugo zu Margaret, während die Knechte sich näherschoben.
    »Nein, er ist ohnmächtig, aber er schafft es«, sagte Margaret und sah Hugo eigenartig gleichgültig, gelassen und kalt an, während sie einen frischen Verband auf die Wunde legte. »Ihr könnt ihn jetzt ins Bett bringen«, sagte sie. Und der Dicke Wat hob die zusammengeschrumpfte Gestalt so behutsam hoch wie einen Säugling und legte sie unter den großen Betthimmel.
    »Woher wißt Ihr, daß er es schafft?« fragte Hugo mit argwöhnischer Stimme, und seine schmalen Augen zuckten unruhig hin und her, denn er wollte jede Einzelheit mitbekommen.
    »Das spüre ich. Und sehen kann ich es auch. Der schwarze Schatten, der ihn umgibt, löst sich langsam auf.«
    Hugo trat einen Schritt zurück und musterte sie von Kopf bis Fuß. In dem schwarzen Kleid wirkte sie leichenblaß. Ihre eingesunkenen, rotgeränderten Augen sahen ihn an, als wäre er Ungeziefer. Einen Augenblick war er versucht, sie zu schlagen, doch statt dessen fuhr er zurück und bekreuzigte sich. Sie konnte den Tod sehen. Eine Hexe. Eine Hexe zwischen ihm und dem Titel. Und überheblich wie der leibhaftige Teufel. Die würde schon noch Augen machen, wenn er erst einmal Gregorys Besitz – der jetzt ihm zustand – übernommen und seine schöne, junge Braut heimgeführt hätte. Für ihresgleichen war kein Platz im Haus – nicht zusammen mit einem zarten, jungen Mädchen und seinen eigenen Söhnen. Zunächst würde er sie unter Kuratel stellen und sie dann verbrennen lassen – nein, das würde seine

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