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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Söhne mit einem Skandal belasten. Er würde sie insgeheim erdrosseln lassen – das war sauberer und erregte kein Aufsehen.
    Und wenn der Alte unbedingt weiterleben wollte, der würde später schon noch abkratzen, so wie es in Gottes Absicht lag. Schließlich war es Gottes Wille, daß ihn die Lanze so schief getroffen hatte. In all den Jahren ihrer beider Kriegszüge war dergleichen nicht passiert. Klar, er hatte tagelang kein Auge zugetan. War wie ein Irrer über das Schlachtfeld geritten, als die Kunde kam, Gilbert sei vermißt, hatte nach ihm gesucht und gesucht, als ob das etwas helfen würde. Nein, das alles war Gottes Werk. Er wollte Hugo für die vielen, vielen Jahre entlohnen, die er seinem habgierigen, herrschsüchtigen Vater treulich gedient hatte. Es war nur recht und billig. Gott wollte, daß er endlich reich würde, wie es einem Mann von seiner Ehre und Abstammung zustand.
    Blieben natürlich noch ihre Bälger. Und deren Heirat konnte er erst in vier, fünf Jahren verkaufen. Ja, es war ein guter Plan, sich nicht mit der Verbrennung ihrer Mutter zu beflecken, selbst wenn sie eine Hexe war. Aber halt – was waren die paar hundert Pfund, verglichen mit ihrem ganzen Erbe? Ah, immer besser – Hugo, du gewitzter Bursche, jetzt arbeitet dein Hirn wirklich. Du mußt sie loswerden und die Bälger so schnell wie möglich ins Kloster stecken. Wann? Am besten nach der Hochzeit. Besser, man regelte das Ganze schnell, solange der Alte besinnungslos war. Brillant. Gehörte alles in Gottes Plan.
    Er sah den alten Mann auf dem Bett an. Er konnte seine schweren Atemzüge hören. Jammerschade, dachte er. Weißt du eigentlich, daß ich dich die ganzen Jahre über gehaßt habe? Und alleweil katzbuckeln und Kratzfüße machen und über deine blöden Witze lachen. Oh, wie ich dich gehaßt habe. Verdammt knapp hast du mich immer gehalten, dir selbst die besten Frauen zuerst genommen – und mich auf dem Lande versauern lassen, statt daß ich den Winter in London verbringen durfte, wo es lustig zugeht. Alles für die Pferde, nichts für Hugo. Auf das hier habe ich lange gewartet. Jetzt habe ich ein Stadthaus, das hat mir Gilbert durch die kleine Hexe da verschafft. Es gehört sich ohnedies nicht, daß ein Bürgerlicher, ein Krämer, etwas so Schönes besitzt. Na gut, jetzt ist es in den rechten Händen.
    Er wandte den Blick von der grauen, zusammengeschrumpften Gestalt auf dem Bett ab und merkte, daß Margaret auf ihn wartete. Er war unendlich höflich. In Gegenwart von vielen Zeugen war er stets ein Ausbund von courtoisie .
    »Robert, hol den Kasten.« Robert machte sich auf die Suche nach dem Gepäck.
    »Dame Margaret, ich muß Euch mitteilen, daß Euer Mann als Held gefallen ist. Er hat dem Herzog das Lager gerettet und wahrscheinlich auch das Leben. Es geschah bei der Belagerung von Verneuil; wir brannten die Vororte nieder und teilten uns in drei Abteilungen, umzingelten die Stadt und wollten am folgenden Morgen zum Sturm auf die Stadtmauer ansetzen. In dieser Nacht schlichen sie heimlich durch die Tore und unternahmen einen Gegenangriff auf das Gefolge des Herzogs. Sie erdrosselten die Wachen so geräuschlos, daß niemand davon aufwachte. Aber sie hatten nicht mit Gilbert gerechnet – er ganz allein war noch wach und schrieb beim Schein einer kleinen Kerze in einer abgeschirmten Laterne, damit man das Licht nicht sah. Und dann ertönte auf einmal der Schlachtruf der de Vilers, und als das Lager aufwachte, sah man ihn halb bekleidet seinen großen Bihänder schwingen und den flüchtenden Schurken nachsetzen. Die Männer des Herzogs folgten seinem Beispiel, und nach dem Handgemenge fand man sechs Leichen – alles Franzosen –, seine jedoch nicht. Am nächsten Tag stürmten wir die Stadtmauer und erschlugen alles, was sich darin bewegte. Ein Turm hielt noch einen weiteren Tag stand, fiel am Ende aber auch. Aber Sir Gilbert blieb verschwunden. Seine letzten Worte sollen ›für Gott und König Edward!‹ gelautet haben. Ein edler Tod. Robert, wie war das noch, was hat Piers ihn in jener Nacht rufen hören? Du kannst doch bestätigen, daß es höchst bewunderungswürdige Worte waren.«
    Robert schien zu zögern; er kämpfte mit sich. Seit der Einnahme des Turms am dritten Tag wurde auch Piers vermißt, doch vorher hatte er Robert noch alles erzählt. Das stellte ihn vor ein kleines Problem. Sollte er sagen, wie es gewesen war, oder wie es hätte sein sollen?
    »Nun?« drängte Sir Hugo.
    »Ja, hm – eigentlich, hm –

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