Die Vision
küssen zu dürfen.
»Natürlich, liebwerte Dame«, sagte die Marquesa. »Sir Hugo«, sagte sie zu dem schuldbewußt wirkenden Ritter. »So bin ich denn frei. Nun kann ich meine Ländereien und mein Leben mit einem vornehmeren Edelmann vereinen, als Ihr es jemals sein werdet. Aber merkt Euch für die Zukunft, das Schicksal kann auch einer Frau ohne Vermögen wohlgesonnen sein.« Damit wandte sie sich um und sagte zu allen im Raum:
»Hier bleiben wir nicht über Nacht. Wir bitten die Augustiner in Wymondley um gastliche Aufnahme, und dann geht es heim. Nie wieder werde ich einen Fuß auf dieses elende, barbarische Eiland setzen.« Ihre Männer und der Priester scharten sich um sie, und sie ging mit klirrendem Geschmeide zur Tür, gefolgt von der Amme und dem Kind. Hier drehte sie sich jählings um und streckte die Hand aus. Mir war mittlerweile klar, daß die dunkle Dame eine Meisterin der dramatischen Gebärde war, daher wußte ich, was jetzt kam. Alle anderen übrigens auch.
»Hugo de Vilers«, sagte sie und wies mit dem Finger auf ihn, »Fluch über Euch bis ins Grab: Möge Euer Ehebett auf ewig Scheusale hervorbringen.« Damit schied sie, und die Leute drängelten sich zur Tür und starrten dem rumpelnden Wagen nach, als er auf dem staubigen Weg verschwand.
Was mich anging, so merkte ich, daß alles dastand und ihr nachgaffte, und da wußte ich auf einmal, was ich zu tun hatte. Mucksmäuschenstill stahl ich mich aus dem Durcheinander, zog meine Mädchen mit nach oben, wo ich mir unsere Umhänge griff und mir ein paar Sachen vorn ins Kleid steckte. Dann schlichen wir uns schnell und schweigsam die wacklige Holzstiege hinten am Turm hinunter und aus dem unbewachten Ausfalltor hinaus. Wir rannten über die Wiese, denn wir mußten die dunkle Dame auf dem Weg zu den Augustinern von Wymondley einholen.
Wenn wir nicht eine Abkürzung gekannt hätten, so daß wir sie in einer Biegung des Weges in Sir Johns Wäldern abfangen konnten, wir hätten den ganzen Weg zum Kloster zu Fuß zurücklegen müssen. Selbst auf dieser kurzen Strecke bekam Cecily natürlich einen Stein in den Schuh, und Alison quengelte und wollte getragen werden, obschon sie dazu viel zu groß ist. Dann tat sie es ihrer Schwester nach und verlegte sich auf ein übertriebenes Humpeln und Stöhnen – und dabei kann sie beim Spielen den ganzen Tag laufen, ohne sich auch nur einmal hinzusetzen. Zum Glück dauerte es nicht lange, und wir hatten die Straße erreicht und kletterten gerade noch rechtzeitig eine steile Böschung hinunter, so daß wir die langsamen Vorreiter und den Wagen einholen konnten. Sie hielten an, und ich lief zum Wagen und bat sie: »Bei der Jungfrau Maria und allen Heiligen, nehmt uns mit nach London, liebe Lady.«
»Habe ich Euch nicht auch in dem Schweinestall dieser verfluchten Familie gesehen? Warum sollte ich etwas für Euch tun?«
»Um Euch zu rächen, Lady«, keuchte ich, und mein Hirn raste, da ich mir ganz schnell einen guten Grund ausdenken mußte. »Wenn ich ihnen entwische, dann schmilzt fast ihr gesamtes Vermögen, das ich ihnen verschafft habe, dahin wie Schnee in der Sonne.«
»Und wer seid Ihr, daß Ihr dort bei ihnen weiltet?«
»Ich bin Margaret de Vilers, die Wittib von Sir Hugos jüngerem Bruder.«
»Ah –« sagte die Dame, lächelte ihr liebliches Lächeln und zeigte die ganze Pracht ihrer kleinen, weißen Zähne. »Dann steigt nur auf, alle drei miteinander. Allein könnt Ihr es nicht schaffen bei den vielen Räubern in diesem wilden Land.« Und so halfen uns ihre Damen beim Einsteigen hinten in den Wagen, wo wir es uns zwischen dem Gepäck bequem zu machen versuchten, so gut es eben ging. Das Ding ruckelte und rumpelte derart, daß mir schwante, am Abend würde ich nur noch aus blauen Flecken bestehen. Woran man wieder einmal sieht, daß Prunkentfaltung sehr lästig sein kann; lieber gehe ich zu Fuß, als daß ich jämmerlich fahre. Aber ich war so erschöpft, daß mich schon bald das Weinen überkam, und um mich abzulenken, fing Cecily an zu plappern. Sie ist in vielem älter als ihre Jahre und hört sich zuweilen ulkig an, vor allem wenn sie französisch spricht, und sie weiß, daß mich das stets aufheitert.
»Mama, was sind Scheu – Scheusale?« fragte sie.
»Dummchen, das nehmen doch die Mägde zum Fußbodenwischen«, antwortete Alison.
»Nein, das sind Scheuertücher, du dumme Gans«, erwiderte Cecily.
»Ein Scheusal«, antwortete ich und trocknete mir die Augen, »ist etwas Abstoßendes wie
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