Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
ist gewißlich nicht von unserer Art. Ei, man könnte fast meinen, er ist nicht einmal ein Knabe, bei den großen Augen, und von Kopf bis Fuß eingehüllt, wie er ist. Ich habe keine Ahnung, warum Ihr meine Gemahlin so verstören müßt, wohledle Dame, doch mit dem Kind habe ich weiß Gott nichts zu schaffen.«
    Die Augen der Dame wurden kaum wahrnehmbar schmal, doch sie beherrschte ihre schönen, weißen Züge eisern.
    Der alte Lord hinter dem Wandschirm lauschte dem Wortwechsel und seufzte tief; dann bat er darum, sehen zu dürfen, was vor sich ging. Vier Männer bewegten den riesigen, gschnitzten Wandschirm und zogen die Bettvorhänge zurück, so daß man die skelettartige Gestalt des alten Lord erblicken konnte, die nichts als eine Nachtmütze auf dem Kopf trug und tief vergraben unter Pelzdecken lag.
    »Bitte sie, das Kind auszuziehen und es herzubringen«, flüsterte der alte Lord dem Dicken Wat zu, und der wiederholte die Worte laut. Die dunkle Dame hob einen Finger, und die Amme entfernte mehrere Lagen bestickter Kleider. Das Kindchen freute sich anscheinend über seine Nacktheit, zappelte mit fetten Ärmchen und Beinchen und krähte vor Vergnügen. Eindeutig ein Junge. Und gleich unter dem Nabel hatte er ein seltsames, dunkles Muttermal.
    »Ein prächtiger Knabe, Madame«, flüsterte der alte Lord, als man ihm das Kind zeigte. »Er dürfte dem Haus jedes Ritters zur Ehre gereichen.« Man wiederholte der dunklen Dame die Worte, und sie nickte zustimmend. »Frag Hugo«, flüsterte er auf Englisch dem Dicken Wat zu, »ob er immer noch alles leugnet, jetzt, wo er das Muttermal gesehen hat.« Der alte Mann war so schwach, daß sich seine Lippen kaum bewegten.
    »Aber Vater«, gab Hugo in eben dieser Sprache zurück, damit ihn die dunkle Dame nicht verstand, »was ist in Euch gefahren? Natürlich leugne ich! Wann wäre ich jemals so tief gesunken, einer Frau die Ehe zu versprechen, nur um mit ihr ins Bett zu kommen? Ich habe diese Frau noch nie gesehen. Und was das Muttermal angeht, die gibt es auf der Welt zuhauf. Eine Frau muß nur verdorbenes Fleisch oder zuviel getrocknete Pilze essen oder sich während der Schwangerschaft erschrecken, und schon ist es geschehen. Sie hat zuviel gegessen – darum hat er ein Muttermal und ist so fett. Zudem haben Frauen keinen Samen, daher ist ein Kind Abbild des Vaters – und sieh dir dieses Kind doch an. Sein Vater war dunkel, das ist deutlich zu sehen.« Er sprach rasch und ängstlich – ebenso an seinen Vater gerichtet wie an seine Braut.
    Die dunkle Dame, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte, musterte die kleine Szene aus der Ferne. Dann schien sie sich zu etwas durchgerungen zu haben, denn sie sprach jählings mit klarer, kräftiger Stimme. Alles wandte ihr den Kopf zu.
    »Sir Hugo de Vilers, seid Ihr gewillt zu schwören, daß dieses Kind nicht das Eure ist und daß Ihr mir nie die Ehe versprochen habt?«
    »Ei – ei, ja doch«, sagte Hugo und blickte dabei in die Runde wie ein Hase in der Schlinge.
    »Gut«, sagte sie. »Ihr sprecht Euch selbst das Urteil. Fra Antonio, holt das Kästchen und das Papier.« Sie stand auf und verneigte sich vor dem kleinen, goldenen, reich verzierten Reliquienschrein mit dem Spitzdach, den der Dominikaner geholt hatte. Dann küßte sie den Schrein, nahm ihn dem Mönch ab und streckte ihn Hugo hin.
    »Legt Eure Hand darauf und schwört auf das, was Ihr vor diesen Leuten gesagt habt.«
    Sir Hugos Knie zitterten etwas, und seine Stimme bebte, als er die Hand auf das Kästchen legte, und Fra Antonio, der sich an den noch nicht gedeckten Kastentisch gesetzt hatte, brachte seine Worte zu Papier.
    »Ich, Sir Hugo de Vilers«, sagte er, und seine Stimme klang schriller als gewöhnlich, »habe dieser fremden Dame, Lady Giuseppina, der Marquesa di Montesarchio, nie die Ehe versprochen, und ich leugne, daß ich der Vater des Kindes bin, welches sie mit sich führt und welches sie ihren Sohn heißt.«
    »Gut«, sagte die Dame. »Laßt ihn unterzeichnen und mit seinem Ring siegeln, Fra Antonio. Zeugen?« Und zwei ihrer immer noch bis an die Zähne gewappneten Männer traten vor und setzten ihr Zeichen unter Fra Antonios säuberliche Unterschrift. Im Raum war es totenstill.
    »Das Kästchen, gute Dame«, sagte Lady Petronilla. »Ei, was befindet sich darin?«
    »Ein Splitter vom wahren Kreuz, Madame de Vilers«, sagte die dunkle Dame und gab ihren Männern das Zeichen zum Aufbruch. Lady Petronilla hohnlächelte, dann bat sie darum, das Kästchen

Weitere Kostenlose Bücher