Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Bis man die Stigmen auf ihrer Stirn, die sie jeden Freitag empfing, als Nadelstiche entlarvte und erkannte, daß die Wundmale an ihren Händen von Zugsalbe erzeugt waren. Sie war eine Betrügerin, ein falsches Rabenaas. Nicht umsonst nannte der Ketzer Luther alle Legenden nur Lügen. Zumindest in diesem Fall hatte er recht, und es gibt mehr solcher Fälle.«
Rebecca sank kraftlos gegen die Wand. »So glaubst du also, daß ich alle diese Visionen und Ekstasen selbst erzeuge, um die Welt zu betrügen?«
Die Kornmeisterin streckte die linke Hand aus und legte sie auf Rebeccas Arm. »Da sei Gott vor! Was denkst du von mir. Nein, ich weiß, daß du reinen Herzens bist. Ich glaube auch, daß du empfänglich bist für die Mysterien unseres Herrn, aber was jetzt mit dir geschieht, sind die Folgen eines bösen Betrugs. Den Korb kann jemand unter dein Bett geschoben haben.«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, wie eindringlich meine Wahrnehmungen des Nachts sind. Ich bin erschrocken über die Bosheit meines Herzens. Ich bin eine Tochter des Stolzes und ein Gottesgreuel, denn ich gab mich als Tochter des Gebets und war doch nur eine Tochter des Zorns und des Teufels.«
Die Kornmeisterin wich zurück vor der Leidenschaft, die aus Rebeccas Stimme sprach. Diese leicht entflammbaren Naturen standen immer in Gefahr, an sich selbst zu verglühen. Welch eine Vergeudung. Sie hielt es mehr mit dem Evangelium der Tat. »Wie kannst du dich nur so quälen?« fragte sie darum mit leisem Tadel. »Was treibt dich zu solch furchtbaren Selbstanklagen?«
»Nimm die Kerze, gehe zum Stickrahmen und hebe das Tuch«, befahl Rebecca mit harter Stimme. Die Kornmeisterin gehorchte verwundert und sah in flackernder Kerzenflamme, was vor ihr so viele erschreckt, entzückt und fasziniert hatte. Staunend und schaudernd stand sie da und meinte, die Figuren des Teppichs würden unter dem zuckenden Licht lebendig.
»Du weißt, daß nur ich diese Stiche gemacht haben kann, und ich begann die Arbeit daran, lange bevor meine Visionen so heftig und quälend wurden. Das Böse ist in mir, und ich kann mich nicht wehren.«
Hilflos drehte die Kornmeisterin sich zu ihr um, der Schmerz, der Rebeccas Züge durchglühte, zerriß ihr schier das Herz. Sie verkrampfte die Hände und fühlte dabei, daß sie noch immer den süßen, weichen Weck in der Rechten trug. Der Duft von Zimt und Ingwer stieg ihr in die Nase. Sie streckte das Brot vor und sagte leise: »Meisterin, ich glaube es sind die Martern, die du dir zufügst, die deinen Geist so verdüstern.«
Die Begine auf dem Bett mußte lächeln, ein dünnes Lächeln, das nur ein Abglanz ihrer früheren Fröhlichkeit war. »Du sprichst wie mein Arzt, Doktor Birckmann, der glaubt, daß mein leerer Magen mir die Visionen eingibt.«
»Na also«, erwiderte die Kornmeisterin erleichtert, »wenn der Doktor es sagt, dann kann es nicht ganz falsch sein.«
Rebecca sank wieder in sich zusammen. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben. Ich spüre deine Zärtlichkeit.«
»Dann iß diesen Weck.«
»Iß du ihn für mich und bitte um Gottes Gerechtigkeit. Bitte darum, daß die Dämonen meine Seele verlassen.«
Rebecca legte sich wieder nieder und schloß erschöpft die Augen. Unschlüssig schaute die Kornmeisterin auf sie hinab. Rebecca war eingeschlafen.
Achselzuckend verließ die Kornmeisterin die Zelle, zog die Tür hinter sich zu und betrachtete den arg zerdrückten süßen Weck in ihrer Hand. Zimt und Ingwer. Welch erlesene Kostbarkeit. Sie schnupperte an dem Teigwerk, dann biß sie kräftig hinein. Herzhaft kauend und schluckend schlurfte sie durch den Gang auf ihre Zelle zu. Sie war fest entschlossen, auch den zweiten Teil von Rebeccas Bitte zu erfüllen. Immer noch kauend kniete sie vor dem schlichten Holzkreuz in ihrem winzigen Gemach nieder und begann ein Gebet. Sie kam nicht weit. Eine unbezwingbare Müdigkeit holte sie ein, mit schläfriger Stimme setzte sie zu einem Amen an, doch das Wort erstarb auf ihren Lippen. Ingwer und Zimt? Ihr Kopf kippte nach hinten, besinnungslos lag sie da, bis sie der Flügelschlag des Gehörnten traf.
Kreischend fuhren seine Höllengefährten auf sie nieder, während sie wie angenagelt auf dem Boden lag. Ein ganzer Schauer schwarzer Gestalten, die sich wieder und wieder teilten, sich zu einer Heerschar vermehrten. Greulich waren ihre Gesichter, gelb blitzten ihre Augen, und die Pupillen waren schwarze Schlitze, einige spielten Flöte auf Totengebeinen, andere schlugen
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