Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
sich grölendes Gelächter, verächtliche Pfiffe. Sie setzte den Fuß wieder auf und stieß sich trotzig ab, löste den linken Fuß vom Eis, schwankte und – stürzte nicht. Das Gelächter verebbte. Sie lief, und es war wunderbar. Sie schwebte, sie glitt, sie flog, der Wind strich über ihr Gesicht. Der Umhang blähte sich im Wind wie schwarze Vogelschwingen. »Es ist herrlich«, schrie sie und erschrak ein wenig über die Kraft der eigenen Stimme.
»Nicht wahr«, kam es aus einiger Entfernung von Tringin. Der Wind schmeckte frisch wie Metall und füllte ihren warmen Mund, mischte sich mit ihrem Atem, schnitt über die Zähne. Oh, dachte Columba, wie ich dieses Mädchen Tringin liebe, einfach darum, weil sie mir diesen Genuß verschafft hat.
Aber es blieb keine Zeit zu denken, die Schienen unter ihren Füßen waren fürwahr ein Kunstwerk. Leicht aber scharf schnitten sie sich in das Eis. Columba tat, was sie zuvor bei den anderen Läufern beobachtet hatte, und wagte weit ausholende, lange Schritte, beugte sich leicht vor und hatte im Nu das Ufer der Insel vor sich im Blick. Flößer stapelten dort ihr Lang- und Schnittholz, zimmerten Floßtafeln und Ruder. Columba sah sie nur als undeutliche Schatten, ihr Blick war fest auf das unebene Ufer gerichtet. Immer näher kam ein kleiner Sandausläufer, schon sah sie die ersten Befestigungssteine und einen knorrigen, armdicken Ast, der weit übers Eis ragte. Sie steuerte direkt darauf zu und bemerkte zum ersten Mal, daß sie zwar zu laufen, nicht aber zu bremsen verstand.
»Tringin!« schrie sie in plötzlich aufwallender Panik. »Tringin, was jetzt?«
Ihr Ruf kreuzte sich mit dem des blonden Mädchens: »Halt an, verflucht, halt an! Dreh dich zu mir.« Der silberfarbene Ast bohrte sich in Columbas Blick, seine toten Zweige streckten sich wie Knochenfinger nach ihr aus. Der verfluchte Ast würde sie aufspießen. Ein letzter Schrei löste sich von Columbas Lippen und stieg in den Himmel wie eine aufgescheuchte Krähe.
4
M an war auf dem Weg zur Ratskapelle St. Maria in Jerusalem.
Würdig schritt der Bürgermeister mit seinem hölzernen Regimentsstab in der Rechten voran, neben ihm wiederum Don Cristobal. Es folgten in geordnetem Zug die neunundvierzig Ratsherren und boten dem gaffenden Volk das Schauspiel einer einträchtigen, ehrwürdigen Regierung. Die anderen Spanier, die geladenen Gäste, unter ihnen van Geldern und, wenn auch ernstlich beleidigt über den hinteren Platz im Zug, der Mönch Galisius folgten. Es waren nur wenige Schritte durch die Rathaushalle und über den Rathausplatz.
Der Zweite Bürgermeister ging an der Seite van Gelderns und plauderte aufgeräumt. Zweifelsohne eine weitere Auszeichnung, die sich der Kaufmann dadurch verdient hatte, daß Don Cristobal de Castellanos ihn zum Abschluß des Empfanges persönlich und mit zierlichen Worten begrüßt hatte.
»Werter van Geldern«, kam es kurzatmig vom Bürgermeister, der ein genußfreudiger Sanguiniker und darum wohlbeleibt war, »immer wieder eine Ehre, Euch in unserer Mitte zu haben. Wiewohl Ihr den cursus honorum der Ratsämter nicht durchlaufen habt, schätzen wir Eure Einschätzung der Lage, Eure Weitsicht als Fernhändler, der die Welt buchstäblich erfahren hat ...«
Er unterbrach sich, denn der Zug kam zum Stehen. Der Erste Bürgermeister erläuterte Don Cristobal das Maßwerk der Kapelle und die steinernen Figuren der Schutzpatrone St. Gereon und St. Ursula. Die Reihen lockerten sich ein wenig. Aus den Augenwinkeln heraus entdeckte van Geldern wieder den glattrasierten jungen Spanier, der sich wie zufällig zu ihnen gesellte.
»Darum«, fuhr der Zweite Bürgermeister inzwischen fort, »ist es uns auch ein Anliegen, ein Herzensanliegen möchte ich sagen, daß Ihr am heutigen Abend, so es Euch zupaß kommt und gelegen scheint, dem hohen Gaste gegenüber noch einmal ein Anliegen unseres ehrsamen Rates vorbringt.« Er pausierte schnaufend und – trotz der Kälte – erhitzt.
»Und dieses Anliegen wäre?« fragte van Geldern knapp, während sein Blick weiter auf dem jungen Spanier ruhte, der ein unbeteiligtes Gesicht machte. Lauschte er?
»Nun, die Geschäfte und die Lage der Niederlande sind besprochen, aber es ist uns auch daran gelegen, daß Don Cristobal Rom einen günstigen Eindruck von der Rechtgläubigkeit unserer Stadt vermittelt. Ihr wißt, der verstorbene Papst – Ehre seiner Asche – hegte Zweifel, drohte gar mit dem Entzug gewisser Privilegien für Köln.«
»Ihr meint die
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