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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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Tochter!«
    »Was ist mit meiner Tochter?«
    »Ich habe sie beim Kai am Holzmarkt aus den Augen verloren.«
    »Törichter!«
    »Das Gewimmel, Herr, die Menge an Leuten.«
    »Wo könnte sie sein?«
    »Ich weiß es nicht. Ein Fuhrknecht meinte, er habe ein Mädchen im schwarzen Umhang auf dem Fluß laufen sehen.«
    »Auf dem Fluß? Erzählst du mir von biblischen Wundern?«
    »Beim Eislauf, Herr. Mit zwielichtigem Gesindel, dem finstersten Gelump.«
    »Erkläre dich, du sprichst von meiner Tochter. Was sollte sie mit irgendwelchen Rabauken zu tun haben? Welches Gesindel meinst du?«
    »Burschen und Mägde von der Alten Mauer am Bach. Mit einer soll sie verschwunden sein. Wohin, weiß ich nicht.«
    Der Kaufmann erbleichte, wieder stachen die Steine, ein greller Schmerz durchzuckte ihn. Das Geläut der Kapellenglocke setzte munter ein. »Lauf«, befahl er seinem Spitzel, »lauf zur Alten Mauer, halte nach meiner Tochter Ausschau, bring sie, wenn nötig, mit Gewalt von dort fort.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Egal, nur lauf.« Das Männlein hob die Brauen, zögerte aber nicht länger und flitzte davon, die dünnen Beine gingen wie Trommelschlegel.
    Verstohlen blickte van Geldern sich um. Galisius hielt ihm mit höflichem Gesicht den rechten Flügel der Kapellentür auf. Verfluchter Galisius, verfluchte Columba, verfluchte Ketzerjauche! Sein Blick suchte ein weiteres Gesicht und fand es nicht. Der Glattrasierte war verschwunden – war auch er ein Spion?
    König Philipp unterhielt eine Armee von Spitzeln, überredete Tausende durch Gewalt, Bestechung, Erpressung, Schmeichelei und Lügen, ihre Nächsten, Geschäftsfreunde, Verwandten auszuspähen und zu verraten. Alles wurde ausgeforscht: Das Heilige und das Gemeine, die Ideen und die Taten, das Öffentliche und das Private. Bis in ihre Nacktheit spürte er die Menschen aus und bewahrte ihre Geheimnisse, bis sie ihm nutzten oder verwelkten. Hatte Don Cristobal nun den Glattrasierten auf den Kölner Kaufmann angesetzt, dem die spanische Krone soviel schuldete? Van Geldern war sich wohl bewußt, daß die spanische Inquisition einer Wünschelrute glich: Sie schlug besonders heftig aus, wo Gold war und die Schulden Seiner Majestät der Begleichung harrten.
    Der Klang der Orgel rauschte auf, das Introitus ertönte, feierlich zogen die Meßdiener ein. Dumpf fiel die Kapellentür hinter van Geldern ins Schloß. Er fühlte sich wie gefangen. Das blitzende Weiß der Chorhemden erinnerte ihn an Leichengewänder. Wie nah lagen Gottes Gnade und Zorn beieinander. Van Geldern kniete nieder. Neben ihm in der Kirchenbank saß maliziös lächelnd der Inquisitor Galisius und betete inbrünstig um ein Gelingen der Ketzerhatz.
    5
    C olumbas Schrei war kaum verklungen, als sie einen Ruck verspürte. Die Schlittschuhe glitten kratzend nach vorn, liefen ziellos auseinander, sie stürzte, fiel nach hinten; schmerzhaft prallte sie aufs Eis. Ihre Röcke schlugen hoch, bedeckten ihr Gesicht. Es blitzte vor ihren Augen, und ein Schmerz, scharf wie ein Messer, jagte durch ihren Kopf. Columba schloß kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, blickte sie in Tringins erschrockenes Gesicht. »Das wäre aber was, wenn eine wie du in meinen Armen stürbe«, sagte die Magd halb vorwurfsvoll, halb erleichtert. »Du ungestüme Idiotin, warum hast du nicht einfach einen Schwung nach rechts oder links gemacht?«
    »Der Ast, ich habe nur diesen vermaledeiten Ast gesehen, wie der Sensenmann sah er aus, ein Gerippe aus Gestrüpp, schauerlich!«
    Das Gesicht der Einäugigen tauchte kurz vor ihr auf, doch Tringin lachte. Lachte die Fratze einfach weg. »Du bist ein Schwarmgeist, den Tod am helllichten Tage sehen! Komm, steh auf, kannst du laufen?«
    »Ich denke schon, gib mir die Hand.«
    Tringin legte ihre Rechte in die Columbas und zog sie hoch. Ein wenig schwindlig und benommen schaute Columba sich um. In der Nähe zog der plumpe Mathys elegante Kreise. Sie ärgerte sich über ihre Ungeschicklichkeit. Ihr Stolz erwachte. Sollte sie vor den anderen etwa wie eine dumme Bürgergans aussehen? Ein geziertes, schönes Püppchen wie die Schwester? »Laß los, Tringin, ich schaffe es allein zurück.« Sie stieß erneut ab und jagte los.
    Tringin folgte kopfschüttelnd. »Warte auf mich!« Am Ufer beim Kai holte sie Columba ein. »Schneid hast du, das muß ich dir lassen, aber«, sie hielt erschrocken inne, »du blutest ja, da an der Stirn.«
    Columba tastete mit steifgefrorenen Fingern die Haut ab und fühlte eine warme

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