Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
kurzen Moment, dann hatte van Geldern sich wieder im Griff.
»Ich grüße Euch«, sagte er höflich und neigte knapp sein Haupt.
Lazarus erwiderte den Gruß. »Was führt Euch hierher?« fuhr der Kaufmann fort.
»Ich suche den Gewaltrichter. Es geht um die Ketzer, die gestern verhaftet wurden«, antwortete Lazarus.
»Seid Ihr als Zeuge geladen, oder wollt Ihr eine Anzeige machen?« Das elende Abenteuer seiner Tochter Columba hatte der Kaufmann über seine vordringlichste Sorge vergessen. Nun holte es ihn in der Gestalt dieses gefährlichen Fremden ein. Scharf musterte er ihn.
Lazarus öffnete erstaunt den Mund, um eine Antwort zu geben, als von hinten hinkend ein weiterer Mann an ihn herantrat.
»Ich bin gekommen«, sagte Cassander knapp und stützte sich schwer auf seinen Gehstock, »laß uns hineingehen, ich habe nur wenig Zeit, und die Kälte bekommt meinen gichtigen Knochen nicht.« Cassander würdigte van Geldern keines Blickes und zog den jungen Mann mit sich fort.
»Ich habe Briefe von Don Cristobal für Euch«, rief Lazarus über die Schulter dem Kaufmann noch zu, »ich werde Euch noch heute aufsuchen.«
»Vor meinem Haus brennen die Trauerkerzen, das rote Kreuz ist aufgestellt. Die Tote ist noch nicht kalt, geduldet Euch einen Tag«, rief van Geldern zurück.
»Columba?«
Van Geldern schüttelte unwillig den Kopf und antwortete mit einem warnenden, fast drohenden Blick. »Meine Frau ist es, die starb. Was läßt Euch an meine Tochter denken?«
Cassander packte Lazarus Arm mit erstaunlicher Kraft und hielt ihn fest. »Laß uns passieren«, verlangte er vom Wachmann. Der trat gehorsam beiseite. »Wir wollen den Turmmeister sprechen.«
Van Geldern blieb gedankenverloren zurück. Was auch immer der Fremde mit dem glatten Gesicht in dem Turm zu schaffen hatte, um eine Anzeige handelte es sich gewiß nicht, schon deshalb, weil der gelehrte Ketzerverteidiger dabei war. Es war Zeit, sich dem Wesentlichen zuzuwenden. Er trat auf den Wachmann zu. »Ist der Gewaltrichter zugegen?«
Der Wachmann nickte. »Gewiß, er visitierte heute früh die gefangenen Wiedertäufer und will später den Verhören beim Turmmeister beiwohnen.«
»Haben die Verhöre schon begonnen?«
Der Wachmann schüttelte den Kopf. »Noch sitzt der Gewaltrichter in seiner Kammer, um andere Anzeigen entgegenzunehmen. Als hätte man nicht genug zu tun mit dem Ketzerpack. Früh am Morgen war eine Person hier, um einen Mord in einem vornehmen Kaufmannshaus anzuzeigen.«
Vom Gerücht zum Gericht war es also nur ein kurzer Sprung gewesen, van Geldern hatte es geahnt. Wie unbeteiligt fragte der Kaufmann. »Einen Mord?«
»Gewiß, dieses Stück Mensch hatte es sehr eilig, Anzeige zu machen, scheint sich um einen ernsten Fall zu handeln. Ganz aufgeregt war die Person.«
»Wer?« fragte der Kaufmann scharf. Zu scharf für den Geschmack des Spießträgers. Sein Gesicht nahm eine amtliche Miene an. »Ich bin weder befugt noch ist es üblich, die Namen von Anklägern zu nennen.« Das galt zwar nur für Ketzer- und Hexenbezeigungen, aber dem Wachmann war danach, seine Macht herauszustreichen.
Unwirsch schob van Geldern ihn zur Seite und trat durch den Torbogen in den Turm. Im niedrigen Gewölbe des Vorraums saß ein Schreiber und fragte nach seinem Begehr. Van Geldern nannte seinen Namen, wurde notiert und erhielt Erlaubnis, den Gewaltrichter aufzusuchen. »Er sitzt in seiner Kammer im ersten Stock. Du da«, der Schreiber rief einen der Boten an, die müßig auf einer Holzbank hockten, »führe den Herrn van Geldern hinauf.«
Der Bote gehorchte und stieg die schiefen Steinstiegen voran. Der Kaufmann folgte ungeduldig und fühlte, wie sein Herz vor Aufregung sprang. Wer war die unbekannte Person, und was genau hatte sie an diesem Morgen angezeigt? Mit aller Kraft zwang er sich zur Ruhe. Es gab keine Beweise für einen Mord. Rebecca hatte klug gehandelt, auch wenn sie ihn nicht täuschen konnte. Nein, Beweise gab es nicht, aber gab es einen Zeugen?
»Herein!« rief der Gewaltrichter. In van Gelderns Rücken wurden klirrende Sporen laut. Ein Mann drängte – von oben kommend – an ihm vorbei, seine Miene verriet höchste Aufregung. Er achtete nicht auf den Kaufmann im pelzverbrämten Rock, sondern sprang elegant die Stufen weiter hinab. Es war Lazarus, der nach draußen lief und vor dem Turm den Weg ins St.-Alban-Viertel einschlug.
3
M it ärgerlicher Geste riß Columba sich das feuchte Tuch von der Stirn. Das Fieber war vorbei. Sie wollte
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