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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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nicht länger liegen. Mit einem Ruck erhob sie sich von der schmalen Pritsche und schaute sich in dem hellen, weißgetünchten Raum um. Er atmete Weltabkehr und Frieden. Sie betrachtete die hölzerne Madonnenfigur in der Nische, den Betstuhl davor, den einfachen Tisch und den Hocker, auf dem Rebecca gewöhnlich ihr Mittagsmahl zu sich nahm. Die Tante hatte Columba am Morgen hierhergebracht, weg von dem unnützen Geschrei der Mägde und Diener, weg vom boshaften Geflüster Julianas, dem Wimmern Mertgins und der Unruhe der spanischen Gäste, die zum Aufbruch rüsteten.
    Das Mädchen erhob sich und wanderte unruhig durch die Kammer. Etwas in ihren Zügen hatte sich geändert, die gewohnte Leichtigkeit und Sicherheit war von ihr abgefallen. Sie bekreuzigte sich, versuchte einen schüchternen Knicks vor der Madonna und ein Gebet. Nein, es wollte nicht gelingen. Zu unruhig war sie für die Andacht, in den Gewandfalten der Figur meinte sie einen Dolch blitzen zu sehen, aber es war nur silberne Litze.
    Der Stickrahmen! Vielleicht würde er sie ablenken. Die Tante malte mit der Nadel köstliche Bilder. Einen Engel mit Taube hatte sie Columba in Kindertagen geschenkt. Das Mädchen schlug erwartungsfroh das Tuch hoch und erstarrte. Die Fratzen Gequälter und Gemarterter sprangen sie an, Teufelshörner schienen durch die Leinwand zu stoßen, gräßlich geflügelte Gestalten, beseelten Insektenlarven gleich, griffen nach ihr und zogen sie an. Freilich kannte sie greuliche Bilder vom Weltgericht von den Altären, doch dies war anders, denn die Hölle war ganz in ihre eigene Welt versetzt, und keines der Gesichter unbekannt. Ihr Blick fiel auf die rechte untere Ecke des Bildes. Katharinas entstelltes, totes Gesicht und dahinter ... Nein, das konnte nicht sein. Weiter irrten ihre Augen über den Teppich, fanden wieder ein vertrautes Gesicht. Ihr eigenes, blutrünstig sah es aus, wild in jedem Fall, zwei Gestalten rissen an ihren Armen, bocksfüßig die eine, waffenstarrend die andere, kopflos beide. Wer? Das Geräusch fester Tritte und eine zeternde Frauenstimme ließen sie aufschrecken. Noch bevor sie den Stickrahmen bedecken konnte, wurde die Tür aufgerissen. Columba fuhr herum, schreckensbleich und wie ertappt. Vor ihr stand Lazarus. Sein Blick traf sie wie ein Blitz, er stürzte auf sie zu.
    »Columba, ein Diener deines Vaters sagte mir, du seist hier. Ich habe eine wundervolle Nachricht für dich.«
    Das Zetern seiner Verfolgerin holte ihn ein. »Elender Spanier, was Ihr hier tut, gehört sich nicht. Nur unten schenken wir an zahlende Gäste Bier aus, wie in den Klöstern üblich. Hier oben habt Ihr nichts zu suchen, auch wenn wir keine Nonnen sind!« Anna erreichte keuchend die Zelle, trat ein.
    Eben noch rechtzeitig besann sich Columba, drehte sich von Lazarus weg und zog das Tuch über dem Stickrahmen herab, das Bild war bedeckt. Die Schaffnerin blinzelte überrascht.
    »Verzeiht, ich wußte nicht, daß Ihr wohl genug seid, um Männerbesuch zu empfangen«, stieß sie hervor, »die Regeln freilich verbieten es.«
    »Die Regeln«, gab Columba hochmütig zurück, »gelten nicht für mich. Für dich aber schreiben sie, soweit ich weiß, fleißiges Tagwerk vor.«
    Anna atmete hörbar ein.
    »Verzeih.« Lazarus sprang Columba bei, drängte die Schaffnerin zur Tür hinaus und schloß sie mit dumpfem Knall.
    Columba dankte es ihm nicht. »Was fällt dir ein, mich so zu überfallen? Verschwinde, ich will dich nicht sehen.«
    »Dann schließe die Augen und höre mich wenigstens an. Eben war ich auf dem Frankenturm. Ich sah Tringin. Sie lebt.«
    Diesmal war es Columba, die auf ihn zustürzte, sie krallte ihre Hände in den Samt seines Mantels. »Lüg mich nicht an!«
    »Ich lüge nicht, begreife doch, sie lebt, sie ist schwer verletzt, doch sie lebt, sie spricht. Ich habe eben einen Arzt zu ihr gesandt.«
    Columba schlug die Hände vor ihr Gesicht, sie lachte und schluchzte, kam kaum zum Atmen, so heftig waren ihre Empfindungen, so heftig drängten sie nach Ausdruck. Vergessen der Teppich, all die grausamen Bilder wie weggewischt, das Leben hatte sie wieder.
    Endlich wirbelte Columba herum, ließ sich vor der Madonna auf die Knie fallen und rief mit kindlicher Unschuld: »Heilige Mutter Gottes, ich danke dir.« Stirnrunzelnd fuhr sie fort: »Auch wenn ich es nicht verdient habe. Ich werde nie wieder mein Gebet versäumen.« Sie zögerte kurz und schloß mit einem trotzigen: »Ehrlich.«
    Lazarus verbiß sich mit Mühe ein Lachen. Was

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