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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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und eine gewaschene Beginentracht, die sie achtlos auf die Truhe warf. Mit leisen Schritten näherte sie sich dann dem Stickrahmen und hob das Abdecktuch. Sie betrachtete das Höllenbild mit Wohlgefallen. Am Rande hatte Rebecca bereits ihr Zeichen eingestickt. Trefflich, vortrefflich! Dieser Teppich würde ihr noch von großem Nutzen sein. Rebecca arbeitete an ihrem eigenen Untergang. Sie ließ das Tuch fallen und wandte sich zu dem schmalen Holzbett. Noch einmal drehte sie lauschend den Kopf zur Tür. Dann zog sie ein Fläschchen unter ihrer Tracht hervor, öffnete es und ließ eine durchsichtige Flüssigkeit auf die Bettlaken tropfen, wobei sie sich sorgsam die Nase zuhielt. Sie deckte das Bett wieder zu. Suchend sah sie sich um und entdeckte den Krug mit dem Wasser. Sie nestelte ein Papierbriefchen hervor und ließ ein weißes Pulver hineinrieseln, schwenkte den Krug, bis es sich aufgelöst hatte.
    Die Glocke im Hof rief die Konventsschwestern zum Abendgebet und anschließender Lesung. Mit einem zufriedenen Lächeln verließ die Schaffnerin den Raum, nicht ohne vor der Madonna geknickst zu haben. Zwei Stunden noch, dann würde Rebecca sich wie alle zum Schlaf zurückziehen. Und was für einen Schlaf! Sie hatte die Dosis langsam gesteigert, auch die Tropfen in den Laken taten ihr Werk. Die Stickereien der Magistra bewiesen, daß ihre Arzneien wirkten. Bald war es an der Zeit, das Gift ganz unverdünnt zu benutzen.
    Anna zog die Tür hinter sich zu, strich ihre Tracht glatt und stieg mit hocherhobenem Haupt die Treppe zum Gebetsraum hinab. Ein golden funkelndes Augenpaar folgte ihr, bis sie die letzte Stufe erreicht hatte.
    Rebeccas dunkle Stimme sprach im Versammlungsraum bereits die ersten Verse eines Schutz- und Schildgebets, das der Seele ihrer Schwester Katharina gewidmet war.
    Anna trat in den Saal und senkte demütig Blick und Knie, mit leisem Wispern stimmte sie in das Gebet mit ein.
    Columba hörte es, während sie die letzten Stiegen hinab, vorbei am Gebetsraum in den Hof schlich. Sie hatte gefunden, was sie brauchte, trug es fest an sich gepreßt unterm Arm. Im Torbogen angelangt, spähte sie vorsichtig nach beiden Seiten in die winterdunkle Gasse. Nein, er war nicht da. Diesmal hatte sie dem Dürren ein Schnippchen geschlagen. Die Listigen dieser Welt waren nur mit List zu schlagen, wußte schon der Kirchenvater Augustinus.
    Die Konventsschwestern saßen derweil auf den Wandbänken des Versammlungsraumes. Spinnräder schnurrten, Klöppelspulen flogen leise klackernd über samtene Kissen. Verschleierte Köpfe beugten sich über grobe und feine Handarbeit. Ruhig blakten die Fackeln, die den holzgetäfelten Raum ausleuchteten.
    »Nun, Schaffnerin Anna, welchen Text hast du zur erbaulichen Lesung für uns ausgesucht?« Rebeccas sanfter Blick ruhte auf der Mitschwester, die ein in braunes Leder gebundenes Büchlein im Schoß hielt.
    »Ich möchte aus der Legende der Christina von Stommeln vortragen.«
    Die anderen Beginen nickten wohlgefällig und erwartungsfroh. Sie liebten die Berichte über die großen Charismatikerinnen der Vergangenheit. Christina von Stommeln war eine von ihnen. Ein einfaches Landmädchen, vor bald vierhundert Jahren bei Köln geboren und dort Schwester in einem der ersten Beginenkonvente. Berichte und Gerüchte über ihre Gottesbegegnungen, Prophezeiungen und Ekstasen waren bis in alle Schichten des Volkes bekannt, auch wenn die jüngeren Päpste die weiblichen Visionen inzwischen mit Argwohn beobachteten und als meist betrügerisch verdammten. Sie beriefen sich zunehmend auf Paulus, der in seinem ersten Korintherbrief befahl, daß das Weib in der Gemeinde zu schweigen habe und keinen unmittelbaren Anteil an göttlicher Offenbarung habe.
    Dennoch waren die heiligen Mystikerinnen in den Herzen vieler Nonnen und Beginen lebendig. Anna schlug also feierlich das Buch auf, las einige Vorbemerkungen und zitierte dann Christinas eigene Schilderungen über ihre mystischen Empfindungen bei Andacht und Messe:
    »›Vor Fülle der Empfindungen konnte ich mich kaum erheben bei der Elevation des Sanctissimus, oft falle ich hin, werde geschüttelt vom Weinen oder bin starr wie ein Stein.‹«
    Rebecca stöhnte leise wie unter Schmerz.
    Anna fuhr fort mit Zeugnissen der Zeitgenossen: »›Zuweilen‹«, so berichtete einer, »›war sie so voll göttlicher Süßigkeit, daß sie sich gebärdete, als ob sie trunken sei. Sie selber aber sagte von sich: Christus selbst ist in mir gegenwärtig und strahlt

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