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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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Untergang.«
    »Der Wille des Herrn geschehe. Ich bin bereit, für ihn zu sterben. Meine Liebe zu ihm ist stärker als der Tod.«
    »O meine Herrin, mein Augenstern, meine allerreinste Liebe, Leben meiner Seele, gesegnetes Herzblatt, du weißt nicht, was deine Worte mir bedeuten.«
    Erschrocken drehte Rebecca sich zu dem jungen Mann um. Verzückung ließ sein bleiches Antlitz strahlen, aus sanfter Freundlichkeit war brennende Leidenschaft geworden. Er breitete die Arme aus und trat auf sie zu.
    »Vater, Ihr vergeßt Euch. Ihr wißt nicht, wovon Ihr sprecht. Ihr wißt nicht, wie es wirklich um meine Seele bestellt ist.« Sie eilte zum Stickrahmen und riß das Abdecktuch herab. »Seht her! Seht Euch an, wozu ich imstande bin. Bin ich in Verzückung, liebe ich auch Reptilien, Kröten, Schlangen, sogar Dämonen, was immer ich sehe, selbst Todsünden mißfallen mir nicht.«
    Die Augen des Diakons flitzten über den gestickten Teppich. Ein Rausch aus Farben, Szenen von sinnlichster Grausamkeit. Das Bild war gewachsen in der letzten Nacht. Er erkannte sich selbst in einer Figur, die mit beiden Händen die nackten Brüste einer schönen Frau umfing, einer Frau mit grauen Augen, die sanft und lüstern zugleich waren. Seine wildesten, seine kühnsten, seine sehnsüchtigsten Träume sah er erfüllt. Er bemerkte nicht das schuldige Entsetzen in den Augen Rebeccas, die neben ihm stand und ihn ansah.
    Seine Kehle war trocken, als er wieder sprach: »Es ist der vollkommenste Teppich, den ich je sah. Es ist ganz so wie Paulus es in seinem Brief an die Korinther fordert: Strebet nach der Liebe! Befleißiget euch der geistlichen Gaben, am meisten aber, daß ihr weissagen möget. Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott.« Er wandte ihr sein Gesicht zu. Das Gesicht eines Fiebernden, eines Verlorenen, eines Verliebten.
    Entsetzt floh Rebecca zur Tür. »Ich bitte Euch, geht«, flüsterte sie atemlos, »geht und laßt uns vergessen, was hier geschah. Ich werde Buße tun, in jeder nur erdenklichen Form, ich werde nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr ruhen, bevor diese entsetzliche Heimsuchung ein Ende hat. Geht und laßt mich beten.« Sie riß die Zellentür auf.
    »Es ist keine Heimsuchung! Siehst du nicht, was der Herr uns befiehlt? Gemeinsam werden wir ihn empfangen, du und ich werden sie erleben, die unio mystica, von der ich mein Leben lang träumte. Sein Wille geschehe.«
    »Magistra«, eine Stimme riß Rebecca herum. Anna stand auf der Schwelle. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Rebecca für ihren Anblick dankbar. Besser eine Verräterin als ein rasend Verliebter, ein verführter Priester.
    »Ein Bote steht unten. Er hat dringende Nachricht, etwas Schreckliches ist geschehen. Columba, deine Nichte.« Sie zögerte.
    »Was?« drängte Rebecca.
    »Man hält sie fest im Frankenturm. Sie saß in der Zelle der Ketzerin Tringin, als man kam, um diese abzuführen.«
    »Nur ein Besuch«, unterbrach Rebecca sie heftig und um den Augenblick der Wahrheit hinauszuzögern.
    »Kein Besuch«, sagte Anna kalt. »Sie schmuggelte eines deiner Gewänder in den Turm, so heißt es. Die schändliche Tringin trug es. Es kann kaum Zweifel geben, daß sie die Flucht darin plante und Columba ihre Helferin war.«
    Schwarze Blitze zuckten vor Rebeccas Augen, sie taumelte, im letzten Moment fing sie sich und lehnte gegen die Wand. Anna sah über ihren Kopf hinweg den Diakon, der fasziniert den Teppich im Stickrahmen anstarrte. Er fixierte die Gestalt eines dunkelhaarigen Mädchens. Columba! Zwei Bocksfüßige zerrten von links und von rechts an ihr. Beide hatten in der vergangenen Nacht ein Gesicht erhalten. Ein von Feuer und Narben entstelltes Antlitz der eine – Luthger, der gebrannte Kopf. Der andere trug auf seinen Schultern eine spitze Haube von scharlachrotem Stoff, mit zwei Schlitzen für die Augen – der Henker. Der Diakon hatte keinen Zweifel mehr: Rebecca war eine erwählte Prophetin.
    Die Schaffnerin nagte an ihren Lippen. Zunächst hatte sie sich geärgert, daß auch der Diakon von einer Klage gegen Rebecca weit entfernt schien. Nun erkannte sie, daß die Sache weit besser lief, als sie es sich ausgemalt hatte. Was für eine Närrin die Magistra war. Den Teppich vorzuzeigen! Aber der Diakon, der war ein noch weit größerer Narr. Seine Liebe war Rebeccas sicherer Tod, dafür würde sie sorgen. Nichts war Kölns Bürgern bis zum Pöbel hinab verhaßter als ein sündiger Pfaffe, der einer Frau im

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