Die Vogelfrau - Roman
schien schon älter als 60 zu sein. Binder war Sektionsgehilfe. ›Oberpräparator‹, wie er sich vorstellte. Bloch wusste nicht, ob dies auch seine offizielle Berufsbezeichnung war, fragte aber nicht weiter nach.
»Sie sind Kommissar Bloch aus Konstanz.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu meinem Chef.«
Der Institutschef, Professor Zumkeller, war ein hagerer, fast kahler Mittfünfziger. Er trug einen brettsteif gestärkten, schneeweißen Kittel. Bloch, verschwitzt und sich mit einer schweren Aktentasche abschleppend, fühlte sich auf der Stelle schmuddelig und deplaziert. Ohne Blochs Eintreten zur Kenntnis zu nehmen, beugte sich Zumkeller über die Schulter seiner Sekretärin und erklärte ihr seine Korrekturen in einem voluminösen Bericht.
»Wie oft muss ich das noch wiederholen«, hörte Bloch. »Lateinische Fachausdrücke gehören nicht in einen Bericht an die Bezirksanwaltschaft. Die verstehen unser Fachchinesisch doch nicht.«
Die Sekretärin war jung, rothaarig, kurzberockt und beleidigt. »Das habe ich sowieso nur nach Diktat geschrieben«, schmollte sie. »Da kann ich nichts dafür.«
Zumkeller gab keine Antwort, richtete sich auf und schoss ein strahlendes Lächeln in Richtung des Kommissars ab. Er sah aus wie ein Marathonläufer. »Kommen Sie.« Ohne ihm die Hand zu geben, öffnete er die Tür zu seinem Büro.
»Nach Ihnen.« Bloch und der Oberpräparator Binder betraten das Büro. Bloch wischte sich heimlich die Handflächen an der Hose ab und stellte aufatmend die schwere Tasche auf den diskret gemaserten Linoleumboden. Zumkeller gab der Sekretärin noch einige knappe Anweisungen. Die antwortete etwas Unverständliches.
»Setzen wir uns doch.« Auch in diesem Büro befand sich eine kleine Sitzecke, abseits von Schreibtisch und Regalen. Im Gegensatz zum Arbeitsraum Gräbers, der so aussah, als seien die Möbel vor Jahren vom Sperrmüll gekommen, war hier alles neu, die Stühle sogar regelrecht designerhaft, in unterschiedlichen, aber sorgfältig aufeinander abgestimmten Farben. Alles machte einen freundlichen und harmonischen Eindruck. Vielleicht brauchte man eine solche Umgebung, wenn man so viele Leichen im Keller hatte wie Professor Zumkeller. Aber ganz offensichtlich waren die Budgets für Büromöbel an der Uni Zürich deutlich höher als die in Konstanz.
»Sie kommen wegen der Mumie.« Zumkeller eröffnete das Gespräch ohne große Umschweife.
»Genau. Sie wurden ja bereits davon unterrichtet, dass der Ausgrabungsleiter, Professor Hoffmann, brutal ermordet worden ist. In diesem Zusammenhang habe ich ein paar Fragen und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn ich dann auch einen Blick auf die Mumie ...«
»Wollen Sie etwas trinken?« Zumkeller schien ihm nicht besonders aufmerksam zuzuhören.
»Ja, gerne. Ein Glas Wasser bitte, das reicht vollkommen.«
»Ich kümmere mich darum, Chef.« Binder, der bis jetzt unsichtbare Partikel unter seinen Fingernägeln hervorgepult hatte, sprang dienstfertig auf.
»Ach, tun Sie das, Binder.« Ein schmales Lächeln glitt über Zumkellers Gesicht und erlosch sofort wieder. »Tun Sie das. Die Marion wird sonst heute nicht mehr fertig mit dem Bericht, wenn sie uns auch noch Kaffee kochen muss.« Zumkeller wandte sich an Bloch: »Die Marion ist eine Ferienvertretung. Ich kann mir kaum ihren Namen merken, solche Aversionen habe ich gegen sie. Schrecklich, diese jungen Frauen. Keine Arbeitsmoral, keine Disziplin. Und dann die Orthographie – zum Weinen.«
Bloch tippte die meisten Berichte selber. Obwohl er im Zweifingersystem schrieb, ging es immer noch schneller, als wenn er die Diktatbänder einer der völlig überlasteten Sekretärinnen anvertraute. Es war ein Elend.
»Die Mumie ...«, begann er wieder.
»Ja, die Mumie.« Zumkeller strahlte wieder wie ein Marathonläufer nach Erreichen der Ziellinie. Endorphingedopt, aber am Rande der totalen Erschöpfung.
»Unsere Institute arbeiteten schon unter meinem Vorgänger zusammen«, begann er.
Die Tür sprang auf. Binder balancierte ein Tablett mit Tassen und Gläsern herein und schloss die Tür mit dem Ellenbogen. Es klirrte leise, als er das Tablett auf den Tisch stellte. »Der Bericht scheint übrigens fertig geworden zu sein, Chef«, bemerkte er wie nebenbei. »Die Marion lackiert sich jedenfalls die Fingernägel.«
»Das ist doch ...« Zumkellers gestärkter Kittel knisterte, als er sich abrupt bewegte.
»Lassen Sie.« Binder legte ihm seine schwere, fast
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