Die Vogelfrau - Roman
wo es ziemlich kalt und trocken war. Außerdem muss eine ständige Luftzirkulation geherrscht haben. Solche Umgebungsverhältnisse können zur vollständigen Mumifizierung führen. Erst recht, wenn die Verstorbene zum Zeitpunkt des Todes stark ausgehungert und ausgetrocknet war.«
»So in etwa hat es mir auch die Assistentin von Professor Hoffmann erklärt. Diese Frau Löble, Sie kennen sie sicher, sprach von einem indianischen Bestattungsritus, bei dem die Verstorbenen auf luftige Lattengerüste gelegt werden.«
»Exakt. Wahrscheinlich müssen wir hier so etwas annehmen. Eine Annahme per exclusionem. Uns fehlen einfach Anhaltspunkte für eine andere Vorgehensweise.«
»Wie lange dauert es denn unter diesen Umständen, bis eine vollständige Mumifizierung eintritt?«
»Schwer zu sagen. Das hängt natürlich von vielen äußeren Faktoren ab. Aber grob geschätzt muss sie mindestens ein Jahr auf diese Weise aufbewahrt worden sein.«
»Leider beantwortet das immer noch nicht die Frage, wie sie in die Mitte des Drudenfußes kam und wie lange sie dort in ihrem sandigen Grab gelegen hat.«
»Sie sagen es. Es sind noch ziemlich viele Fragen offen. Ein Jammer, dass mein Kollege Hoffmann tot ist. Wir könnten seinen Sachverstand dringend brauchen. Er war brillant, schlichtweg brillant, wissen Sie?«
Der Kommissar murmelte etwas, das wie Zustimmung klang.
»Für die nächste Woche hatten wir nämlich endlich die Öffnung der Mumie geplant. Nun steht es in den Sternen, ob wir überhaupt dazu kommen.«
»Kann ich sie sehen?« Der Kommissar schloss seinen Notizblock.
»Binder wird Sie führen. Wir sehen uns später.«
10. Kapitel
Vor den Obduktionssälen befand sich eine weitläufige, geflieste Halle. Gläserne Schiebetüren öffneten sich lautlos wie im Supermarkt. Ein ständiger Luftstrom ließ Kommissar Bloch frösteln. Er sah mehrere blitzende Metalltische mit leicht geneigter Arbeitsfläche und einem Abfluss. Auf einem Tisch war schmutzige, zerrissene Kleidung ausgebreitet. Der Kommissar sah nicht genauer hin. Dies war nur der Vorbereitungsraum, sozusagen die Anlieferung, wie ihm Binder in knappen Worten erläuterte. Kommissar Bloch betrachtete die Wand links. Sie bestand aus aneinander gereihten Edelstahltüren mit Griffen, die ihn an die voluminösen Kühlschränke der 50er-Jahre erinnerten. Kühlschränke, deren massiges Äußeres nur aus Isolierschichten bestand, aus Schaumstoffspeckgürteln, die über den winzigen Innenraum hinwegtäuschten. Kühlschränke, die sich nicht von innen öffnen ließen und in denen kleine Kinder erstickten oder erfroren.
Binder ging zur dritten Tür von links, entsicherte den Griff und zog eine flache, blank gescheuerte Schublade heraus. Im Dämmerlicht des Kühlschrankinneren sah Kommissar Bloch bleichgelbe Fußsohlen aufleuchten, an deren Zehen Zettel aus grobem Pappkarton hingen. Anhänger, nicht unähnlich jenen, mit denen Koffer beschriftet werden, die auf eine längere Reise mit vielen Zwischenaufenthalten gehen. Bloch sah nur die Füße von Erwachsenen, keine Kinderfüße. Es gab ihm einen Stich der Erleichterung, den er sich in seiner unvermuteten Heftigkeit nicht zu erklären wusste.
Binder wuchtete die Schublade samt Inhalt auf ein fahrbares Gestell und schloss die Tür. Kälte sinkt nach unten. Kommissar Bloch trat von einem Fuß auf den anderen, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen.
Er trat näher.
Der Blick in tote Gesichter war für ihn schon seit vielen Jahren Routine.
Dies hier war keine Routine.
Wahrscheinlich hatte die Löble recht, als sie sagte, die Mumie sei wunderschön. Die Gestalt hatte fast nichts Leichenhaftes an sich, verbreitete auch nicht den Geruch der Verwesung. Jegliche Individualität war von ihr gewichen, jegliche Verbindung zu der Person, die sie einmal gewesen sein mochte, gelöst. Sie lag dort wie ein Kunstwerk ihrer selbst, geschaffen durch gewisse physikalische Rahmenbedingungen, ähnlich vielleicht filigranen Versteinerungen, geboren aus einem Meer von Zeit, ein seltenes Artefakt.
Die Haut schien wie aus dunklem bernsteinfarbenem opakem Wachs gebildet. Einzelne Äderchen waren noch sichtbar. Die zierlichen Hände lagen auf der Brust, die Fingernägel dunkler gefärbt, schokoladenfarben, sehr kurz und – der Kommissar beugte sich vor – allem Anschein nach abgekaut. Die Indianerin war zu Lebzeiten eine Nägelbeißerin gewesen.
Dies hatte etwas Anrührendes, so, als habe er ihr ein sorgsam gehütetes Geheimnis entlockt,
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