Die Vogelfrau - Roman
Schuhe. Außerdem hat sie die 200 Euro Haushaltsgeld mitgenommen, die ich vor ihr versteckt hatte.«
»Mit 200 Euro wird sie nicht weit kommen.«
»Das weiß ich doch auch.« Brigittes Stakkato-Silben verlangsamten sich. Ihre Stimme wurde wieder tiefer.
»Aber ich mache mir einfach fürchterliche Sorgen.«
»Brigitte – wird es nicht langsam Zeit, Eva loszulassen?«
»Das musst du sagen. Gerade du.«
»So kommen wir doch nicht weiter.«
Das Handy schwieg. Es rauschte und knackte. Draußen zog die Blechkolonne in quälender Langsamkeit an ihm vorüber. Wäre er in der Schlange geblieben, hätte er vermutlich die Schweizer Seite schon erreicht.
Sein Leben bestand im Wesentlichen aus Konjunktiven.
»Brigitte?«
Ihr leises Seufzen ging im Rauschen der Umgebungsgeräusche fast unter. »Es ist nur, diesmal war es anders. Sie hat sich in den letzten Wochen so stark verändert. Ich bin gar nicht mehr an sie rangekommen. Erich ...?«
»Ja?«
»Ehrlich, ich habe sogar schon an Drogen gedacht. Ich habe heimlich ihr Zimmer gefilzt. Nichts. Jedenfalls keine Drogen. Nur so Indianerschmuck. Ethno-Tinnef. Damit hat sie sich neuerdings behängt. Das ist doch zurzeit modern, dieses Zeug.«
»Wieder mal modern.« Bloch musste lächeln. »Erinnerst du dich nicht an unsere Hippiezeit, Brigitte? Damals hast du dich auch mit solchem Ethno-Tinnef behängt.«
Das war lange her. Zu lange, um noch wahr zu sein.
»Was soll ich bloß tun, Erich? Was macht ihr bei der Polizei, wenn ein Kind einfach so verschwindet?«
»Brigitte! Ich bitte dich. Eva ist 25. Sie ist kein Kind mehr.«
»Doch, Erich. Sie ist noch ein Kind. Niemand weiß das besser als ich. Weißt du, was ihre neueste Masche war? Sie hat nur noch ungekochte Lebensmittel gegessen. Alles roh. Und natürlich schon lange kein Fleisch mehr. Sie hat gesagt, sie will sich nur noch von dem ernähren, was die Erde freiwillig hergibt. Das ist doch verrückt, oder?«
»Lass ihr Zeit, Brigitte. Wenn das Geld verbraucht ist, wird sie wieder zurückkommen.«
»Wenn ich es nur glauben könnte, Erich. Manchmal denke ich, du hast kein Herz. Du bist immer so ... So rational.«
»Ich muss jetzt Schluss machen, Brigitte. Ich muss weiter. Wenn es Neuigkeiten gibt, dann rufst du an, ja?«
»Schon gut, Erich. Das Gleiche sagst du wohl auch immer deinen Zeugen?«
Bloch antwortete nicht.
Es knackte im Handy.
Er setzte den Blinker und scherte vorsichtig in die Warteschlange ein.
8. Kapitel
Ich will zum See. Ich will zu unserem heimlichen Ort, den der Meister vor langer Zeit aus Holzplanken direkt am Seeufer gebaut hat. Eine kleine Plattform, geeignet zur Meditation und zum Gebet. Adler, der Meister, geht mit mir. Allein würde ich den Weg nicht finden, obwohl ich schon so oft dort gewesen bin. Es ist mitten im Naturschutzgebiet. Am Rande des Schilfgürtels stehen alle 20 Meter Verbotsschilder. Es ist ein schmaler Pfad durch das knisternde Röhricht. Links vorbei an der riesigen, hohlen Weide. Im Inneren ihres Stammes könnte ich mich verstecken. Ihre gelben, lanzettförmigen Blätterschwärme regnen auf mich herab wie vergilbte Libellenflügel. Brombeerranken verfangen sich in meinem Rocksaum. Ich muss stehen bleiben, um die Ranken zu lösen. Die wenigen schwarzlila Beeren sind mit einem zarten Schimmelflaum überzogen. Ich will zum Ufer.
Hinter uns schließt sich eine Wand aus Rohr. Ein Wasservogel kreischt. Der Nebel macht aus der Welt ein enges, feuchtes Zimmer.
Wenn er sich hebt, wird die Sonne uns durchwärmen. Seit ich unter 50 Kilo bin, friere ich ständig.
Dort ist der Steg. Ich lege mich auf die Planken. Unter mir gluckst das Wasser regelmäßig wie ein Pulsschlag. Der Meister steht hinter mir.
»Manchmal fühle ich, dass ich bereit bin, mich von mir selber zu lösen. Dann könnte ich einfach ins Wasser hineingehen und immer weiter gehen und immer weiter atmen, so lange, bis es über mir zusammenfließt. Es würde so aussehen, als ob es mich nie gegeben hätte.«
»Noch ist es nicht so weit. Noch kannst du deinen Körper nicht an Mutter Erde zurückgeben.«
»Warum, Meister? Warum nicht?«
»Noch ist die Reinigung nicht abgeschlossen. Du willst doch auferstehen zu einem besseren Leben.«
»Manchmal will ich nur noch meine Ruhe.«
»Schau uns an, Topsannah und mich. Schon vor vielen Jahren haben wir uns diesem Ritual unterworfen. Zusammen mit der richtigen Ernährungsweise ist es ein unfehlbares Mittel, 200 Jahre lang bei voller Gesundheit zu leben. Die Weisheit der
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