Die Vogelfrau - Roman
Indianer leitet uns auf unserem Weg.«
Obwohl meine Augen geschlossen sind, sehe ich die gütigen, alterslosen Gesichter des Meisters und Topsannahs, seiner Frau. Topsannah, das heißt ›Blume der Prärie‹ – und so sieht sie auch aus. Glatte, straffe Haut, langes, kräftiges Haar, strahlende Augen, von tiefer Liebe und Weisheit erfüllt.
Stets lächeln sie.
Ich möchte so sein wie sie.
Oder ...
»Ich bin so schmutzig, Meister. Schon als Kind hatte ich ständig das Gefühl schmutzig zu sein. Meine Mutter hat es mir oft genug gesagt, ich konnte es ihr einfach nie recht machen. Ich muss ein schreckliches Kind gewesen sein.«
»Das ist jetzt vorbei.«
»Nein, Meister. Es ist nicht vorbei. Wenn ich damals nur ein besseres Kind gewesen wäre. Dann wäre mein Vater vielleicht bei uns geblieben. Ich bin mir sicher, dass er uns dann nicht verlassen hätte.«
»Mutter Erde hat dich immer geliebt. Deshalb spürst du diesen starken Wunsch, zu ihr zurückzukehren. Aber jedes Menschenkind trägt nicht nur die Wurzeln von Mutter Erde in sich. Jeder Mensch trägt auch ein Stück Himmel in seinem Herzen. Ich nenne ihn großer, weißer Büffel oder großer Geist. Er will dich erheben und neu erschaffen. Höre die Worte der Prophezeiung:
›Ich bin die Sonne, der Vater. Ich habe alle Dinge auf der Erde erschaffen. Du bist mein Kind und ich schütze dich vor Schaden, doch mein Herz ist betrübt, dass du dich selbst zerstörst. Von Mutter Erde erhältst du deine Nahrung, doch sie ist zu krank, um dir gesundes Essen zu geben. Was soll aus dir werden? Willst du nicht mehr das Herz deines Vaters erfreuen? Willst du nicht die Krankheit deiner Mutter heilen? Bleibe standhaft, dann will ich dich retten, sodass du glücklich leben wirst in einer friedlichen Welt‹.«
»Ich werde standhaft bleiben, Meister.«
Der Nebel lichtet sich. Ich öffne die Augen. Das Licht und die Wärme des großen, weißen Büffels durchdringen mich.
»Wenn du dich auf den Weg machst und nicht gut vorbereitet bist, dann wirst du in der Erde stecken bleiben. So wie eine Puppe, die nie zum Schmetterling wird. So wie ein Kind, das im Geburtskanal stirbt, bevor es das Licht der Welt erblickt hat.
Du wirst es schaffen, Eva. Das spüre ich. Du bist stärker als meine Tochter. Jetzt bist du wie eine Tochter für mich. Ich werde besser auf dich aufpassen.«
Er wird mich beschützen. Mir ist warm und mein Gesicht wird vom Licht gestreichelt. Die Stimme des Meisters klingt jetzt sehr eindringlich.
»Es ist Zeit für den nächsten Schritt, Eva. Du wirst ab heute keine feste Nahrung mehr zu dir nehmen. Du wirst im Zimmer unserer Tochter wohnen. Und wenn die Zeichen günstig sind, werden wir in wenigen Tagen das Ritual zum Abschluss bringen können.«
9. Kapitel
Das Gerichtsmedizinische Institut lag am Rande des weitläufigen Universitätscampus. Am sinnvollsten erreichte man es mit der Tram und genoss dann den Spaziergang durch das parkähnliche Gelände, in dessen Mitte ein kreisrunder See lag. Kommissar Bloch steuerte jedoch den Wagen in die feuchtklamme Unterwelt des Parkhauses und suchte nach den Besucherparkplätzen. Das riesige Parkhaus erstreckte sich mit mehreren Stockwerken unter dem sonnendurchfluteten Park. Wahrscheinlich lag der See, an dessen Ufer Kinder zutrauliche Enten fütterten, direkt über ihm. Er parkte den Wagen und merkte sich Stockwerk und Parkplatznummer. Über ihm flackerte eine Neonröhre. In ihrem ersterbenden und hastig wieder aufwachenden Licht erkannte er zwei struppige Tauben, die sich in einer zugigen Ecke dicht aneinanderschmiegten. Bloch sah ein Schild ›Ausfahrt‹. Er suchte den Lift. Er sah auch andere Schilder. Sie zeigten alle ein weißes, rennendes Männchen auf grasgrünem Grund. Fluchtwegpiktogramme. Er schwitzte.
Schließlich fand er den Lift. Die Kabine stank nach Urin und war mit mehreren Schichten grellfarbiger Graffiti überzogen. Auf halber Höhe zog sich ein Kranz von Dellen und Spuren schwerer Springerstiefel, so, als seien Jugendliche wieder und immer wieder mit voller Wucht gegen die Wand der Aufzugkabine gesprungen. Mit spitzen Fingern betätigte Bloch einen kaugummiverklebten Knopf und der Lift glitt nach oben. Er entließ ihn auf einen gepflasterten Vorplatz. Beton und hellgrauer Granit umgaben ihn. Der Park lag weit hinten. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Institut. Binder wartete bereits auf ihn. Eine massige, vierschrötige Gestalt. Rotes Gesicht, säuberlich ausgekratzte Bartstoppeln. Er
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