Die Vogelfrau - Roman
Verbrennungen. So gesehen hat sie noch Glück gehabt.«
»Ja«, sagte Bloch. »So gesehen hat sie natürlich Glück gehabt.«
Der Sanitäter plauderte weiter, während er ruhig und in regelmäßigem Rhythmus den Beatmungsbeutel zusammenquetschte. Sein Kollege begann, den großen silberfarbenen Aluminiumkoffer wieder zusammenzupacken. »Sieht wahrscheinlich schlimmer aus, als es ist. Die Sauerstoffsättigung ist schon wieder akzeptabel.«
Er hatte große, fast quadratische Hände. Rot und aufgescheuert vom zu häufigen Waschen und Desinfizieren.
Warum trug er eigentlich keine Handschuhe?
Fass sie nicht an, wollte Bloch sagen.
Lass sie in Ruhe.
Was weißt du schon. Es ist alles viel schlimmer, als es aussieht.
Cenk tippte ihm auf die Schulter.
»Was ist los, Chef? – Wir sollten uns auch mal um die beiden da drüben kümmern.« Er nickte hinüber zu einem abgerissen wirkenden Paar. Bloch erkannte sie sofort.
»Ich denke, sie ist jetzt transportfähig.« Der rothaarige Sanitäter nahm den Beatmungsbeutel von Evas Gesicht. Ruß und Dreck machten ihre Züge fast unkenntlich.
Aber sie war es.
Sie atmete.
Bloch lauschte auf das Rauschen des Wassers.
Das ist meine Tochter, wollte er sagen. Aber er unterließ es.
»Ich kann jetzt nicht, Cenk. Sprich du mit ihnen.«
Bloch folgte der Tragbahre, die langsam schaukelnd durch das Röhricht getragen wurde. Cenk starrte ihm kopfschüttelnd nach.
Dann wandte er sich zu dem Mann, der völlig in sich versunken, teilnahmslos vor sich hin starrte. Die Sanitäter hatten ihm eine graue Decke um die Schultern gelegt. »Herr Adler?«
Adler zog sich die filzige, schwere Decke über den Kopf und antwortete nicht. Seine neben ihm sitzende Frau schnalzte verächtlich mit der Zunge.
Sie tragen Eva – aber sie wissen nicht, wer sie ist.
Ich sollte es ihnen sagen. – Aber habe ich ein Recht dazu?
Weiß ich denn, wer sie ist?
Eva schwebt über dem Nebel.
Sie ist eingehüllt in pures Gold.
Eva braucht viel Wärme. Sie hat schon als kleines Kind viel zu oft gefroren.
Wann habe ich Eva zuletzt in meinen Armen gehalten?
Ich erinnere mich an einen Abend, als ich sie gebadet hatte. Ich hatte ihr Butterbrote geschmiert und Kakao gekocht. Und danach saßen wir auf dem Sofa und schauten irgendwelche idiotischen Zeichentrickfilme an und wir haben die ganze Zeit gelacht. Sie hatte einen neuen Pyjama an, auf den sie sehr stolz war. Ich glaube, es waren kleine Pferdchen drauf. Oder waren es Elefanten? Der Frotteebademantel war eigentlich schon viel zu klein. Deshalb hatte ich eine Decke um sie herumgewickelt. Damit sie es warm hatte. Wir lachten so sehr und sie verschüttete etwas von ihrem Kakao. Danach musste sie noch mehr lachen.
Damals hatte sie eine Zahnlücke. Vorne, beide Schneidezähne waren ihr kurz hintereinander ausgefallen. Sie war sehr stolz auf diese Zahnlücke.
Wenn sie beim Lachen ihren kleinen Mund weit aufriss, konnte ich die ungekaute Brotrinde sehen und ihre winzige rosafarbene Zungenspitze, wie sie durch die Zahnlücke stieß.
Wahrscheinlich war sie damals glücklich.
Ich denke, sie muss damals glücklich gewesen sein.
Wenn nicht damals, wann dann?
Es muss sehr lange her sein.
Damals habe ich sie ins Bett getragen. Mit Bademantel und Wolldecke und allem.
Ich mach mich ganz schwer, hat sie gesagt. Ich bin schon groß und bald bin ich so schwer, dass du mich nicht mehr tragen kannst.
Bloch blieb stehen.
Dort vorne verluden sie den in Gold gehüllten Körper seiner Tochter in den Rettungswagen.
Sie atmete.
Nichts war gut.
Ich sollte Brigitte informieren.
Ich sollte mich besser um den Hund kümmern.
Wie kalt es hier ist. Kalt und feucht. Cenk hat recht. Es wird früh Winter.
Bloch wandte sich zur Seite. Er ging nicht zurück zum Brandplatz, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er überquerte die Straße und hielt sich am Ufer. Er ging lange. Er war blind und taub. Das Seeufer war immer das Gleiche. Herbststarre. Skelettfingriges Röhricht.
Von ihren Erbauern aufgegebene Spinnweben, deren Fäden unter der Last der Feuchtigkeit schlapp durchhingen.
Stumme Natur.
Wortlose Stille.
Selbstgespräche.
Ein Duft tat sich auf. Ein Geruch wie von Kindertee oder Hustenbonbons. Bloch blieb stehen.
Er war weit gelaufen. Die Füße taten ihm weh. Sein Handy war tot.
Er schaute auf die Uhr. Die Pressekonferenz würde ohne ihn stattfinden.
Er war zu weit gegangen.
25. Kapitel
Es roch nach Kindertee und Hustenbonbons. Bloch stand am Rande eines
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