Die Vogelfrau - Roman
mehr seinen Fingernägeln, sondern blickte erstaunt von Topsannah zu Bloch. Schaute dann hinüber zu Cenk, der den Kopf schüttelte und mit den Schultern zuckte. Dann rückte er ein Stück zur Seite und versuchte so auszusehen, als ob er nicht vorhanden wäre.
»Dein Kind?« Topsannah lächelte ein verfallenes, weitgehend zahnloses Lächeln. »Die war niemandes Kind. – Und ganz sicher war sie kein Vater-Kind.«
Doch, dachte Bloch. Doch, ganz sicher, sie war immer ein Papa-Kind. Immer.
Und dann, dachte er, habe ich sie allein gelassen.
Was, wenn Brigitte damals mit der Pistole auf sie gezielt hatte? Eva in ihrem Gitterbettchen und Brigitte in der Tür stehend, die Pistole in der Hand. Hatte Eva geweint oder versucht, sich unter der Decke zu verstecken?
Eva war doch viel zu klein gewesen, um fortzulaufen.
Aber nicht zu klein, um zu verstehen. Nein, das nicht.
Was machen Kinder in einer solchen Situation? Halten sie sich die Augen zu und meinen dann, sie sind verschwunden?
»Bitte«, sagte Bloch. »Bitte, sagen Sie nicht so etwas.«
»Warum denn nicht?«, griente Topsannah.
Konnte sie etwa Gedanken lesen, diese alte, abgetakelte Frau? Konnte sie Gedanken lesen?
»Denk mal lieber drüber nach, was Männer den Kindern so alles antun. Bist ja wohl im richtigen Beruf, um über solche Sachen Bescheid zu wissen, oder?«
»Erich.« Diesmal war es kein Zupfen am Jackenärmel; diesmal griff Cenk beherzt zu und zog ihn zur Seite. »Tu dir das nicht an. Lass doch die Kollegen ...«
Bloch schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt.
»Was reden Sie da, Frau Adler. Was reden Sie nur für einen Unsinn. Sie haben, soweit ich weiß, doch gar keine Kinder und dann wollen Sie über andere Eltern urteilen?«
»Doch«, sagte Topsannah.
Bloch war irritiert: »Was wollen Sie damit sagen, Frau Adler?«
»Ich habe ein Kind. Nein, ich hatte eins.« Ihr Blick verschleierte sich. Sie gewann aber rasch die Fassung zurück. »Vielleicht habe ich ja noch mein Kind«, sagte sie mit heiserer Stimme, fast flüsternd. »Wer weiß. Vielleicht habe ich noch mein Kind. Man sagt immer, die Hoffnung stirbt zuletzt. Stimmts, Herr Kommissar?« Aller Spott war aus ihrer Stimme verschwunden. Ihre Haltung war nun fast bittend. Sie holte ihre Hände unter dem Tuch hervor, hob die Handflächen zum Gesicht und betrachtete sie lange, als ob dort etwas geschrieben stünde. Dann ließ sie die Hände in den Schoß sinken. Dort lagen sie wie müde, überflüssige Gegenstände. Topsannah trug keine Handschellen.
»Was hat er ihr nur angetan«, klagte sie mit dieser ungewohnten, heiseren Stimme. »So etwas können nur Männer tun.«
»Meinen Sie etwa Ihren Ehemann, Frau Adler? Was hat Ihr Mann Ihrer Tochter denn angetan?«
War dies eine Vernehmung? Dann sollte sie nicht auf dem Gang stattfinden. Dann sollte er mit ihr in ein Büro gehen. Ein Aufnahmegerät sollte bereitstehen und Frau Adler müsste über ihre Rechte aufgeklärt werden. Wieder wechselten Cenk und der junge Polizeibeamte ratlose Blicke.
Dies war lediglich ein Gespräch, entschied Bloch.
Was hatte dies alles mit Eva zu tun?
»Wollen wir nicht ins Büro gehen? Erich?« Cenks Stimme war fast zaghaft, gewann dann aber an Festigkeit. »Ohne Ihren Rechtsanwalt brauchen Sie gar nichts zu sagen, Frau Adler«, wandte er sich dann direkt an Topsannah. Die lächelte wieder ihr müdes, eingefallenes Lächeln.
»So eine wie ich braucht sowieso keinen Anwalt. Mit eurem System habe ich nämlich schon lange nichts mehr zu schaffen.«
»Was soll denn das? Sie leben hier mitten in Deutschland, Frau Adler. Wie können Sie da sagen, Sie haben mit diesem System nichts zu schaffen?«
»Es geht eher um Geistiges«, antwortete Topsannah. »Ihr würdet in eurer Sprache vielleicht Werte sagen. Wenn diese Welt an ihr Ende kommt, werden wir ja sehen, wessen Werte überdauern.«
Die Sätze hörten sich an wie abgelesen und auswendig gelernt.
»Wir gehen ins Büro«, entschied Bloch.
Den jungen Kollegen schickte er Kaffee holen. Topsannah verlangte lediglich ein Glas Wasser.
Bevor Cenk als Letzter den Raum betreten wollte, flüsterte ihm Bloch zu: »Versuch doch bitte mal rauszufinden, wie es Eva geht. Machst du das für mich?«
Cenk nickte.
Warum rufe ich nicht selber an, dachte Bloch, während er sich wieder Topsannah zuwandte, die in sich selbst versunken am Tisch saß und wieder die Innenfläche ihrer Hände betrachtete. Sie hatte für eine Frau ziemlich große Hände, die aber gleichzeitig
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