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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Blatter
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draußen gewesen?
    Bloch konnte sich nicht mehr erinnern.
    »Cenk, wenn wir wieder zurück sind, dann müssen wir die Vermisstenlisten durcharbeiten. Wenn unsere Mumie neueren Datums ist – und die Zürcher Kollegen gehen mittlerweile fest davon aus –, dann müssen wir herausfinden, ob sie irgendeinem Vermisstenfall in den letzten Monaten oder Jahren zuzuordnen ist.«
    »Eine junge Frau, die verschwunden ist«, Cenk saugte an der Innenseite seiner Wange. »Hier in der Region ist mir nichts bekannt. Zumindest nichts Neueres. Wahrscheinlich müssen wir sowieso überregional suchen.«
    »Oder sogar international«, ergänzte Bloch. »Das wird unter Umständen eine reine Fleißarbeit – da werden wir Verstärkung brauchen. Ich hoffe nur, dass die betreffende Frau auch tatsächlich als vermisst gemeldet wurde. In der heutigen Zeit gibt es ja immer mehr Menschen ohne jegliche soziale Bindungen. Ich habe vor kurzem von einem Vater gehört, der seine zwölfjährige Tochter zum Bahnhof brachte, ihr ein paar 100 Euro in die Hand drückte und ihr sagte, dass sie sich nie mehr daheim blicken lassen soll. Unglaublich, oder?«
    Cenk ließ die Backentasche vernehmlich zurückschnalzen. »In so einem Fall hätten wir natürlich Pech, Chef. So einen Menschen vermisst niemand.«
    Bloch dachte an das fein geschnittene Gesicht der Toten. War es möglich, dass ein so junger Mensch, ein so schöner Mensch wie Abfall entsorgt wurde? Nein, wenn man die umständliche Art der Bestattung in Betracht zog, dann schien das zumindest in diesem Fall ganz und gar unmöglich. Irgendjemand hatte sich Mühe gegeben mit dieser jungen Frau – offensichtlich sehr viel Mühe. Irgendjemand würde sie vermissen, da war Bloch sich ganz sicher.
    »Hoffentlich können wir noch genügend genetisches Material sicherstellen, um eine zweifelsfreie Identifizierung durchzuführen. Zumkeller hat die Mumie wohl mit Absicht ziemlich stark verwesen lassen.«
    Die Straße wurde einspurig. Ein silberner Geländewagen mit Schaffhauser Kennzeichen drängelte sich rüde zwischen die vor ihnen fahrenden Autos.
    »Da kennen die nichts«, stellte Cenk kopfschüttelnd fest. »Der muss doch unser Blaulicht gesehen haben. Aber wenn die im Ausland unterwegs sind, dann fühlen sie sich unverwundbar.«
    »Na ja, die Verkehrsbußen sind ja auch in Deutschland längst nicht so saftig wie in der Schweiz«, gab Bloch zu bedenken.
    »Trotzdem ...« Cenk machte ein gekränktes Gesicht. »So direkt vor den Augen des Gesetzes, da gehört doch einiges dazu, oder?«
    Bloch schwieg. Der silberne Geländewagen preschte davon und überfuhr das gelbe Licht der Ampelanlage an einer weitläufigen Kreuzung. Cenk brachte den Wagen zum Stehen. Das Blaulicht zuckte und schien sich im aufsteigenden Nebel zu brechen und zu spiegeln. Sie näherten sich dem Wasser. Die Luft wurde schwer und dunstig.
    »Ich stelle mir gerade vor, wie das ist, wenn jemand verschwindet, den man gut gekannt hat. Jemand aus der Familie zum Beispiel – oder ein guter Freund. Und dann sucht man und man wartet – vielleicht jahrelang. Die Leute wissen ja nicht, woran sie sind. So jemand hofft vielleicht noch nach Jahrzehnten.«
    Bloch kannte solche Fälle. Als er Kind war, hatte eine Nachbarin immer von ihrem in Russland vermissten Mann erzählt. Sie erzählte immer so, als ob der Mann noch lebe. Das hatte dem kleinen Erich Bloch Angst eingejagt. Manchmal kam es vor, dass ein fremder Mann an ihrem Haus stehen blieb. Der schaute dann an der Fensterfront nach oben. Ein anderes Mal zündete er sich im Schutz der hohlen Hand eine Zigarette an. Wenn der kleine Erich ihn bemerkte, dann tat er nur noch so, als sei er in sein kindlich harmloses Spiel versunken. In Wirklichkeit passte er auf. Vielleicht war es der vermisste Mann der Nachbarin? Vielleicht war er gekommen, hatte das Haus beobachtet und war dann wieder gegangen, ohne sich zu erkennen zu geben? In Gedanken war der kleine Erich damals viele verschiedene Szenarien durchgegangen. Mit den Jahren hatte dieses Spiel seinen Reiz verloren und war durch andere ersetzt worden.
    ›Die Nachbarin kann sich einfach nicht mit seinem Tod abfinden‹, hatte Erichs Mutter immer gesagt. Und sie tat so, als sei dieses Sich-Nicht-Abfinden-Können ein Zeichen unentschuldbarer Schwäche.
    Mit dem Tod ihres eigenen Mannes hatte sich Ilse Bloch offensichtlich sehr schnell arrangiert.
    Welche Bedeutung hatte der Begriff ›schnell‹ in der Wahrnehmungswelt eines Kindes?
    »Das ist schon

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