Die Voliere (German Edition)
hatte, sprangen von der Ladefläche und versuchten, ihn zu Fuß zu erwischen. Einer von ihnen hatte einen schweren Zimmererhammer in der Hand, ein anderer zwei Rundhölzer, die mit einer Kette verbunden waren.
Tibursky schoss in Höhe des Wagens an ihnen vorbei. Nach wenigen Schritten hatte er den Waldrand erreicht. Fünfzig Meter weiter zweigte ein schmaler Trampelpfad ab, der ihn tief ins Gehölz führte.
Nach ein paar Minuten wurden die Stimmen hinter ihm leiser. Dann hörte er einen Fluch und wie jemand rief, man werde warten, bis die Männer aus dem Dorf und die übrigen Kameraden als Unterstützung einträfen. Dann würde man mit den Bewohnern der Schreckenmühle kurzen Prozess machen.
Tiburskys war vor Angst wie gelähmt und völlig erschöpft. Stolpernd blieb er stehen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er musste sofort abhauen. Er wusste, wie er aus dem Wald herauskam, ohne den Männern in die Arme zu laufen. Die anderen mussten für sich selbst sorgen. Niemand würde jemals erfahren, dass er in der Lage gewesen wäre, sie zu warnen. Dann dachte er an Nora Winter und was sie für ihn und die beiden anderen getan hatte. Er dachte an Lefeber und Rosen, die er immer noch nicht als Freunde bezeichnen würde, aber auch nicht verdient hatten, von ihm im Stich gelassen zu werden. Nein, er konnte sich nicht einfach davonschleichen. Er musste zu ihnen und danach blieb immer noch genug Zeit zur Flucht.
*
Vor dem Scheelbacher Gemeindehaus spielten sich an diesem Samstagmorgen Szenen ab wie bei der Verabschiedung einer Kompanie an die Front. Frauen küssten heulend ihre Männer, die mit glasigem Blick und mit Äxten, Stöcken und einer Mistgabel bewehrt angetreten waren. Ein Flachmann machte die Runde. Väter prahlten vor ihren Söhnen, wie sie die ›Kinderklauer‹ aus dem Dorf jagen würden, die Söhne wiederum übertrafen sich in Spekulationen, welcher von den Vätern der Stärkste war und die meisten Kinderklauer verprügeln würde.
Im ganzen Ort gab es niemanden, der zur Besonnenheit aufrief. Keiner stellte Kiefers Halbwahrheiten infrage, was den Dorfvorsteher in besonderem Maß freute. Er platzte schier vor gespannter Erwartung. Seine Gedanken schweiften kurz zu seiner Browning im Kofferraum, aber der Einsatz einer Schusswaffe war bedauerlicherweise wohl nicht vonnöten. Vermutlich würden die Typen beim Anblick der Meute, die brüllend das Haus stürmte, ohne Gegenwehr das Weite suchen.
Nicht einmal die Anwesenheit der beiden Polizisten bereitete Kiefer besondere Sorgen. Adi, der Wirt des Goldenen Kalbs, hatte die Herren einige Wochen lang mit kostenlosem Frühstück, Mittag- und Abendessen versorgt. Anfangs hatten sie sich noch gewehrt – Vorteilsnahme im Amt hieß das im Paragrafendeutsch –, aber dann war der Geruch von Wildgulasch, Holzfällersteak und Rührei mit Speck nebst frisch gebrühtem Kaffee doch zu verführerisch gewesen. Kiefer konnte sich nicht vorstellen, dass die Polizisten die Waffe auf Adi richten würden, nicht einmal, wenn sein Furcht einflößendes Hackmesser auf einen der Exhäftlinge gerichtet war.
»Abmarsch!«, brüllte er, dem Anlass entsprechend. Der Traktor tuckerte los und die Truppe erklomm den Hänger, der sie an den Waldrand bringen würde. Kiefer selbst stieg in seinen Audi und folgte dem Gefährt. Mehr als einmal fiel fast jemand hinten herunter, vermutlich eher aufgrund des Alkoholpegels als wegen der halsbrecherischen Schaukelei. Als Kiefer an seinem Haus mit der verschlossenen Tür und dem heruntergelassenen Rollo am Küchenfenster vorüberfuhr, schlich sich ganz kurz Anna in seine Gedanken. Er konnte die Leere im Haus beinahe spüren. Dieses Problem würde er angehen, sobald die Mühle sich wieder in seinem Besitz befand.
Der Traktor wurde langsamer, es ging zum Wald hinunter. Sie ließen einen Pick-up hinter sich, der sich im matschigen Untergrund eines Rübenackers festgefressen hatte. Kurz vor dem Waldrand parkte Bauer Schlömer sein Gefährt auf einem kleinen Parkplatz mit Mülleimer und Wegkreuz. Die Kompanie stieg ab und sammelte sich am Zufahrtsweg zur Mühle.
Henk und seine Leute waren schon da. Er trug ein Käppi in Tarnfarben und Bundeswehrhosen, und seine Alkoholfahne umwehte Kiefers Gesicht, als er vor seinen Chef trat und die Hand zum militärischen Gruß an die Krempe legte. Neben ihm standen vier olivgrüne Benzinkanister.
»Was soll das?«, wollte Kiefer wissen.
»Die nehmen wir nur falls mit«, antwortete Henk mit schwerer
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