Die Voliere (German Edition)
Nora dann den Geistesblitz, ihre eigene SIM-Karte einzulegen.
Nachdem sie eingeschaltet hatte, dauerte es eine Weile, bis die Verbindung hergestellt war. Doch dann gingen die Nachrichten im Sekundentakt ein.
Vierzehn verpasste Anrufe, acht Nachrichten auf der Mailbox, eingegangen zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Hauptsächlich der Rettungsdienst. Sie hatten nur eine ungenaue Wegbeschreibung und konnten die Schreckenmühle nicht finden. Nora rief umgehend zurück.
*
Das Warten strengte Nora mehr an als das Chaos der vergangenen Nacht. Sie wartete auf Tiburskys Rückkehr, auf den Rettungsdienst, auf Martin Kanthers Rückruf, auf Strom. Und insgeheim wartete sie auf eine verräterische Bemerkung von Rosen oder darauf, dass er plötzlich mit einer geladenen Pistole vor ihr stand. Der Sturm war am Vormittag abgeklungen, was Nora zu der Überlegung veranlasste, ob sie auf eigene Faust aufbrechen solle. Doch sie wollte die beiden verletzten Polizisten nicht mit Rosen und Lefeber alleine lassen. Nicht jetzt, wo sich möglicherweise eine Waffe im Besitz der Männer befand.
Den Morgen nutzten Rosen und sie, um Ordnung im Esszimmer und in der Küche zu schaffen, wo Rosen den größten Schaden angerichtet hatte. Das zerbrochene Fenster reparierten sie notdürftig mit Pappkarton, beim Entsorgen eines zerbrochenen Weinglases schnitt Nora sich zu allem Überfluss in den Zeigefinger. Einen Abzug durchziehen konnte sie nun also auch nur noch unter Schmerzen. Shit happens.
Lefeber hatte den Auftrag erhalten, bei dem Bewusstlosen in Rosens Zimmer zu wachen, aber als Nora nach oben ging, um ihn abzulösen, war er verschwunden. Auch das Klopfen an seiner eigenen Tür verhallte ungehört. Hatte er die Flucht ergriffen?
Nora öffnete leise die Tür. Das Zimmer war leer, das Bett gemacht und mit einer Tagesdecke überzogen, auf der sorgfältig zusammengefaltet Lefebers Schlafanzug lag. An der Wand standen zwei Staffeleien, mit Bettlaken verhüllt. Nora dachte daran, was Lefeber gestern Abend (war es wirklich erst gestern Abend gewesen?) zu ihr gesagt hatte: Er wünsche sich nichts mehr, als die Zeichenklasse am Städel zu besuchen.
»Herr Lefeber?«
Nichts. Keine Antwort aus dem Bad, außer ihr und Martinez schien sich keine Menschenseele mehr hier oben zu befinden, und bei letzterer war sie sich nicht mal hundertprozentig sicher. Sie spähte über das Treppengeländer ins Erdgeschoss. Niemand. Also kehrte sie in Lefebers Zimmer zurück.
Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, fand sie sich plötzlich vor einer der Staffeleien wieder. Nach einem letzten prüfenden Blick zur Tür hob sie einen Zipfel des Bettlakens an.
Ein junger Mann in Öl.
Weiche Züge, doch eher erwachsen als kindlich. Blonde Locken, Röte auf den rundlichen Wangen, ein laszives Lächeln auf den vollen Lippen. Das Gesicht kam Nora seltsam bekannt vor. Aber sie kam nicht darauf, wo oder wann sie es schon einmal gesehen hatte.
Der Junge auf dem Bild war nackt. Er lag, die Hand lässig unter den Kopf geschoben, sodass Torso und Oberarme gut zur Geltung kamen, auf einem Bett aus Herbstblättern. Sein Penis lag schlaff auf der Seite, Brust und Schambereich waren nur spärlich behaart.
Nora missfiel der Gedanke, aber auf sie wirkte das Bild erotisch. Allein die Tatsache, dass Lefeber es gemalt hatte, weckte ein unbehagliches Gefühl in ihr. Doch sie war schon viel zu weit gegangen. Abrupt ließ sie das Laken fallen, als ihr bewusst wurde, dass sie Lefebers Privatsphäre verletzt hatte. Sie drehte sich um, in der Absicht, den Raum zu verlassen.
Lefeber stand in der Tür. Er blickte sie durchdringend aus seinen grünen Augen an.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Noras Kehle war wie zugeschnürt. Das hätte unter keinen Umständen passieren dürfen.
»Ich … verzeihen Sie, ich hätte das nicht tun sollen.«
»Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«, entgegnete Lefeber kühl.
»Ich habe Sie gesucht. Als ich die Bilder sah, war ich neugierig, woran Sie arbeiten.«
»Jetzt wissen Sie es.«
Lefeber kam auf sie zu; sie wich aus, um zur Zimmertür zu gelangen. Sie traute sich nicht, ihm den Rücken zuzukehren.
»Wie gesagt, es tut mir leid.«
Lefeber fuhr mit der Hand zärtlich über die Staffelei.
Nora hatte die Tür erreicht. »Wer ist der Junge auf dem Bild?«
»Niemand Bestimmtes. Ein Archetyp.«
»Er wirkte irgendwie vertraut.«
»Das wird jeder sagen, der das Bild ansieht. Das ist der Trick an der Sache.«
»Malen Sie solche Motive aus dem
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