Die Voliere (German Edition)
meine Freilassung ohnehin beschlossene Sache ist, warum ist dann ein weiteres Gutachten erforderlich?«
»Es dient der Polizei dazu, die nötigen Maßnahmen für die Zeit nach ihrer Entlassung in die Wege zu leiten.«
»Welche Maßnahmen?«
»Zum Beispiel Personenschutz.«
Lefeber lauschte dem Getöse der Demonstranten in der Ferne, das mit dem Wind an- und abschwoll. »Schützen Sie die Gesellschaft vor mir oder schützen Sie mich vor dem Mob?«
»Sowohl als auch. Die Beamten kontrollieren außerdem, ob sie die gerichtlich erteilten Auflagen befolgen.«
»Und welche wären das?«
Nora ließ ungeduldig die Fingergelenke knacken. »Das wird der Haftrichter entscheiden. Sind Ihre Fragen damit zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet? Ich hätte da nämlich auch noch einige parat.«
Lefeber lächelte verlegen.
Nora atmete tief durch. Sie hatte sich vor dem Treffen die zwanzig Jahre alten Tatortfotos aus dem Keller seines Reihenhauses in Riedberg angesehen und den grauenvollen Anblick während der letzten Minuten erfolgreich verdrängen können. Nun kehrten die Bilder zurück.
»Herr Lefeber, Sie haben 1992 zwei Ihrer Schüler, die Zwillingsbrüder Peter und Paul Grießbach, in Ihr Haus gelockt, überwältigt und so schwer misshandelt, dass die beiden an ihren Verletzungen starben.«
Das war faktisch richtig, beschrieb jedoch nicht ansatzweise, was Lefeber den Jungen angetan hatte, bevor der Tod sie von ihren Qualen erlöste. Nora hatte die Lektüre des gerichtsmedizinischen Berichts mehrmals unterbrechen müssen, weil ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten.
»Das ist sehr nüchtern formuliert. Der Staatsanwalt nannte es damals ›zu Tode gefoltert‹.« Eine simple Feststellung, bar jeglicher Gefühlsregung.
»Wie war das in den Wochen und Tagen vor der Tat? Was haben Sie da getan? Wie haben Sie sich vorbereitet?«
»Peter und Paul waren meine Lieblingsschüler, beide außerordentlich talentiert, begabter, als ich selbst es jemals war. Ich hatte sie bereits vorher gelegentlich zum Eisessen eingeladen, wir haben manchmal gemeinsam eine Ausstellung besucht. In meiner Fantasie waren die beiden süchtig nach Erniedrigung. Ich habe mir nachts im Bett vorgestellt, wie ich den beiden Schmerzen zufüge, Schmerzen, die ihnen Lust bereiteten, die sie von mir verlangten, die sie befriedigten. Zu diesen Fantasien habe ich masturbiert. Zehn, zwölf Mal in einer Nacht.« Lefeber sprach im selben gleichgültigen Tonfall wie jemand, der berichtete, was es am Tag zuvor in der Kantine zu Essen gegeben hatte.
»Aber von der Vorstellung bis zur realen Tat ist es ein weiter Weg. Was gab den Ausschlag, Ihre Wünsche umzusetzen? Ein konkreter Auslöser?«
»In der Rundschau entdeckte ich eine Anzeige: Eine gynäkologische Praxis verkaufte zwei ausrangierte Untersuchungsstühle. Ich hatte nicht bewusst danach gesucht, aber als ich die Anzeige sah, war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Wie in Trance rief ich dort an und zwei Tage später standen die Stühle in meinem Keller. Ab da wusste ich, dass ich Peter und Paul zu mir holen würde.«
»Hat Ihnen das Angst gemacht?«
»Nein. Es hat mich außerordentlich erregt.«
»Hatten Sie ein schlechtes Gewissen?«
»Man hat bei mir eine dissoziative Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, so etwas wie ein Gewissen oder Mitgefühl kenne ich nicht.«
»Haben Sie sich jemandem anvertraut? Jemanden um Hilfe gebeten?«
»Nein.«
»Nicht mal Ihre Freundin?«
»Mein Verhältnis zu Ina Franke war mehr oder weniger platonisch. Wir hatten schon vorher kaum Sex miteinander und seit Beginn meiner Fantasien war ich überhaupt nicht mehr in der Lage, mit ihr zu schlafen.«
»Beschreiben Sie bitte den Tag, an dem Sie die Jungen in Ihre Gewalt brachten.«
Lefeber sah durch Nora Winter hindurch, wirkte geistesabwesend. Er räusperte sich. So leidenschaftslos, wie er sich gab, war er wohl doch nicht.
»Im Oktober fand in der Schirn eine große William-Waters-Retrospektive statt. Ich habe Peter und Paul eingeladen, sie mit mir zu besuchen. Wir trafen uns nachmittags bei mir zu Hause, um von dort in die Stadt zu fahren. Ich habe zwei Gläser Orangensaft mit Ketanest, einem starken Beruhigungsmittel, präpariert. Als sie benommen waren, habe ich sie in den Keller gebracht. Dann bin ich in die Innenstadt gefahren, habe drei Eintrittskarten gekauft, damit ich später belegen konnte, dass wir dort waren, und habe mir die Ausstellung angesehen. Übrigens eine ausgezeichnete Werkschau.
Weitere Kostenlose Bücher