Die Voliere (German Edition)
Kennen Sie Waters?«
»Ich habe von ihm gehört.«
»Wussten Sie, dass Waters seine Farben selbst hergestellt und dabei Kot, Blut und Sperma verarbeitet hat?«
»Ich beginne zu verstehen, was Sie an ihm fasziniert.«
Lefeber lachte. »Nein, ich bin ausschließlich an seiner Kunst interessiert. Aber er war eine ruhelose Seele.«
Wie du, vervollständigte Nora den Satz im Geiste, aber Lefeber hatte es sichtlich darauf angelegt, Mitleid zu erwecken, also behielt sie ihre Gedanken für sich.
»Wir schweifen vom Thema ab.«
Ihr Gesprächspartner sah sie lange an. Vermutlich ordnete er ihre Äußerung als Unhöflichkeit ein. »Entschuldigung. Was genau möchten Sie wissen?«
»Wie war das, als Sie nach der Ausstellung nach Hause kamen, in dem Wissen, dass die Jungen unten gefesselt warteten, zu Ihrer Verfügung? Was haben Sie da empfunden?«
Lefeber ließ sich Zeit mit der Antwort. »Stellen Sie sich vor, der Mann Ihrer Träume nimmt nach monatelangem Hofieren Ihre Einladung zu einem romantischen Dinner an. Sie wissen, dass er bei Ihnen übernachten, vielleicht mit Ihnen schlafen wird, er hat entsprechende Andeutungen gemacht. Er ist der attraktivste Mann, der je Interesse an Ihnen bekundet hat. Sie platzen vor Vorfreude, Sie sind erregt, aber Sie haben auch Angst. Angst zu versagen. Das war in etwa der Gefühlszustand, in dem ich mich befand.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Sie haben die Fotos im Bericht gesehen.«
»Ich will es von Ihnen hören.« Es ging Nora nicht darum, eine neue Version der Geschichte aufgetischt zu bekommen, die vielleicht von der bisher bekannten abwich; damit rechnete sie nach zwanzig Jahren sowieso nicht mehr. Sie wollte lediglich Lefebers Verhalten studieren, während er sich seine Tat in Erinnerung rief. Aber ihr Gegenüber durchschaute ihre Motive ganz offensichtlich. Er schilderte die ungeheuerlichen Vorgänge wie ein Arzt im Lazarett, für den die menschlichen Grausamkeiten ihren Schrecken verloren hatten.
»An diesem Abend bin ich hinuntergegangen, um nach den Jungen zu sehen. Ich hatte getrunken, viel getrunken, um mich in den Griff zu bekommen. Trotzdem war ich so nervös, dass ich mit dem Schlüssel kaum das Schloss traf. Die Jungen hatten sich übergeben, vermutlich eine Nebenwirkung des Beruhigungsmittels. Ich musste sie säubern, wie Babys. Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Vater. Sie flehten mich an, ich solle sie nach Hause gehen lassen. Peter rief weinend nach seiner Mama, wie ein Wickelkind. Da wurde mir endgültig klar, dass ich ihm und seinem Bruder diesen Wunsch niemals gewähren konnte, weil sie mich verraten würden. Ich ging hinauf ins Wohnzimmer und verbrannte ihre Kleidung und alles, was sie bei sich hatten, im Kamin. Alles außer den Fahrrädern. Davon abgesehen waren nun ihre nackten Körper auf den Untersuchungsstühlen das Einzige, was von ihnen noch übrig war. Das Einzige, das ich noch gebrauchen konnte. Ich ging zu Bett und schlief meinen Rausch aus. Am nächsten Morgen begann ich, die Wände des Hobbyraums mit Eierkartons auszukleiden.« Lefeber legte eine Pause ein, um ein Glas Wasser zu trinken. Er verschränkte die Hände im Schoß. »Dann begann die Behandlung.«
Nora schluckte trocken.
Dann erzählte Lefeber der Sachverständigen vom ZPD, wie er bei der Tötung der Jungen vorgegangen war.
Auf ihre Frage, was er dabei empfunden hatte, antwortete er: »Ruhe und Gelassenheit. Es war, als fiele die Spannung der letzten Monate komplett von mir ab.«
Nora ließ die Stille im Raum einen Moment wirken. »Als man Sie gefasst hat, waren Sie da erleichtert?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Ich war verärgert, immerhin konnte ich mein Werk noch nicht vollenden.«
»Aber die Jungen waren bereits tot, als die Polizei sie fand.«
»Ja, aber sie waren deshalb nicht weniger von Nutzen für mich.«
Nora wurde flau im Magen. »Sie haben sie …?«
»Nein«, entgegnete Lefeber. »Ich wollte sie malen. Sie in einem Kunstwerk verewigen.«
»Sie haben ein Jahr nach Ihrer Festnahme, während der Hauptverhandlung, einen Brief an Ina Franke geschrieben. Eine Morddrohung. Über einen Mithäftling aus der Untersuchungshaft geschmuggelt.«
»Ja. Das tut mir sehr leid. Ich hatte beinahe eine Woche lang kaum geschlafen und war nervlich total am Ende. Ich hatte Halluzinationen wegen des Schlafmangels. Ich gab ihr die Schuld an meiner Festnahme. Ein paar Tage später entschuldigte ich mich bei ihr, ebenfalls in einem Brief. Per Einschreiben. Leider verweigerte sie
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