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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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zum Abschied. Als er den Raum verließ, sah sie ihm nachdenklich hinterher. Mit seinen hängenden Schultern sah er aus wie ein Junge, dem eine schwere Prüfung bevorstand.
    *
    Einundvierzig, acht, fünf, zweiundzwanzig.
    Rosen sitzt in seiner Zelle, starrt auf den Fernseher und zählt. Auf der Mattscheibe ein Bild, das er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat: das Haupttor der JVA – Außenansicht. Davor eine lange Reihe flackernder Kerzen, einundvierzig Teelichter, um genau zu sein, wie eine gerissene Perlenkette auf dem Boden liegend. Im Hintergrund sieht man die Umrisse von acht Fahrzeugen auf dem Parkplatz. Fünf Fernsehkameras, auf die Menschen gerichtet, die hinter dem Lichtermeer stehen und Plakate hochhalten. Sie skandieren Sprüche, lautlos klappen ihre Münder auf und zu. Den Ton hat er abgestellt, er braucht ihn nicht, denn was sie rufen, hört er durch das geöffnete Fenster. Er steht auf, sein Blick suchend, aber natürlich kann er die Demonstranten nicht sehen. Die Klinkermauer gegenüber verschwimmt vor seinen Augen, er wischt sich über das Gesicht. Zweiundzwanzig Grad hat der Wetterbericht vor knapp einer Stunde für heute angekündigt. Viel zu warm für die Jahreszeit.
    Sein Mund ist trocken. Auf dem Tisch stehen eine Plastikflasche mit Wasser und ein Becher für ihn bereit. Er schenkt ein, doch seine Hand zittert so stark, dass er die Hälfte verschüttet. Rosen trinkt, wischt die Lache weg, klopft an Willis Käfig und holt aus der Schublade eine Puppe, die wie ein überdimensionaler Affe mit umgehängtem Patronengürtel aussieht. Das Fell ist stumpf, an einigen Stellen schimmert bereits der Kunststoff durch; einer der spitzen Eckzähne im halb geöffneten Mund ist abgebrochen. Rosen streichelt mechanisch das Fell, bis sich sein Puls wieder normalisiert. Chewbacca hat immer eine ungeheuer beruhigende Wirkung auf ihn. Manchmal träumt er davon, so wie der Wookie aus Star Wars zu sein: nicht nur beeindruckend groß, sondern auch mutig. Mutig und gesund.
    Von draußen dringen Laute herein, die eher an das Heulen von Hunden als an menschliche Stimmen erinnern. Sein Magen meldet sich und mit ihm ein flaues Gefühl. Ein unverkennbares Signal.
    Rosen legt Chewie in die Schublade zurück und trottet zum Aufsichtszimmer. Verschlossen. Eigentlich sollte das Büro rund um die Uhr besetzt sein. Aber es gibt zu wenig Personal, weshalb nur zwei Schließer den Trakt für die SVler betreuen; beide sind irgendwo unterwegs, weiß der Kuckuck wo, vermutlich hocken sie wieder in der Cafeteria. Letztes Jahr hatte einer der SVler in seinem Zimmer einen Infarkt erlitten. Die Schließer entdeckten die Leiche erst am darauffolgenden Tag.
    Rosen ballt die Fäuste und trommelt gegen die Metalltür. Er fängt an zu schwitzen, aber seine Hände sind eiskalt – der Kreislauf, die aufsteigende Panik. Er knabbert einen Keks, geht zur Toilette, überbrückt die Zeit. Wenn er nicht in den nächsten zehn Minuten seine Spritze bekommt, wird es für ihn kritisch. Von da an kann es nur noch bergab gehen.
    Er sieht sich nervös um. Tibursky schlendert an ihm vorbei, ein freches Grinsen im Gesicht und den Finger zum Gruß am Käppi. Dem wird er auch irgendwann mal in den Arsch treten. Aber zuerst muss er den Schließer finden.
    »Tillich!« Kein Mucks. Wenn der Mann nicht bald auftaucht, wird er auf der Schwelle zum Büro ins Koma fallen.
    »TILLIIIIIIICH!«
    »Hör auf so herumzubrüllen, Rosen! Ich bin ja schon da.« Tillich steckt den Kopf zu einer der Zellentüren heraus, dann trabt er an. Der Aufseher kennt das schon, immer diese Eile. Er schließt die Bürotür auf, öffnet den Wandschrank mit dem roten Kreuz und reicht Rosen das schwarze Lederetui. Der setzt sich auf den Besucherstuhl, breitet den Inhalt auf der Schreibtischplatte aus und schraubt mit geübten Bewegungen die Utensilien zusammen. Er zieht die Spritze auf, schiebt sein T-Shirt ein Stück nach oben und legt seinen schwammigen Bauch frei. Klemmt eine Hautfalte ein und setzt die Insulin-Injektion. Dann schraubt er das Besteck auseinander, legt alles wieder an seinen Platz zurück und überlässt es Tillich, das Etui im Giftschrank einzuschließen.
    »Warum kann ich das nicht in meinem Zimmer aufbewahren?«
    »Du kennst die Regeln, Rosen. Besser als jeder andere hier.« Tillich verdreht die Augen und bugsiert ihn aus dem Büro, um seinen Rundgang fortzusetzen.
    Als Rosen vor seiner Zelle steht, verwehrt der zweite Schließer ihm den Zutritt. »Du hast Besuch.

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