Die Voliere (German Edition)
war wieder da.
Ein vorsichtiges Klopfen an der Zellentür. »Sind Sie fertig?«, fragte der Schließer.
»Ja«, antwortete Nora.
»Nein«, antwortete Albrecht.
Sie lachten. Nora wandte sich zum Gehen.
»Und Sie sind?«, wollte Albrecht wissen.
»Nora Winter von der Kripo Frankfurt.« Sie gab ihm die Hand. Sein Griff war fest und sanft zugleich. Jetzt erst bemerkte sie ihren Fehler. »Tut mir leid, vom Zentralen Psychologischen Dienst der hessischen Polizei. Ich muss mich erst an den neuen Titel gewöhnen.«
Und bevor Albrecht sie noch weiter über den Grund ihres Besuchs ausfragen oder sie ein weiteres Mal mit seinem intensiven Blick durchbohren konnte, eilte sie davon, zu ihrem ersten Gesprächstermin.
*
Der Besprechungsraum hätte sich im Bürogebäude jedes beliebigen mittelständischen Unternehmens befinden können. Nüchternes Mobiliar aus Metall und Plastik, ein Aktenschrank an der Wand, auf dem Tisch eine Thermoskanne mit Blümchenmuster und braunen Flecken. Daneben auf einem Tablett Tassen, ein Glasschälchen mit trockenen Keksen aus dem Discounter, ein weiteres mit Kaffeesahne und Zuckertütchen. Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee.
Draußen, an einem kaltblauen Himmel, lugte die Morgensonne hinter einer Wolke hervor und sorgte dafür, dass die Fenstergitter scharfkantige Schatten in den Raum warfen und eine dunkle Linie teilte Lefebers Akte. Irritiert rückte Nora den Ordner ein Stück zur Seite.
Über ihrem Kopf ertönte das leise Klicken, kurz bevor die Neonröhren aufflammten. Der Wachbeamte auf dem Stuhl am Eingang hatte die Deckenbeleuchtung eingeschaltet. Jetzt nickte er ihr zu, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Dann verschränkte er die Hände im Schoß und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die gegenüberliegende Wand.
Durch das Fenster drangen die Sprechchöre der Demonstranten herein. Draußen auf dem Flur das Klirren eines Schlüssels, Schritte. Nora klappte die Akte zu. Sie legte den Stift neben den Ordner, zog den blonden Pferdeschwanz straff und verschränkte die Hände auf der Tischplatte. Die Schritte kamen näher.
Einen irrwitzigen Moment lang stellte sie sich vor, dass der Mann, der gleich das Zimmer betreten würde, klein und drahtig wäre, mit Sommersprossen und roten Haaren. Plötzlich verspürte sie einen Anflug von Panik. Ihre Hände fühlten sich eiskalt an. Doch ihr Verstand verdrängte die Angst. Siegfried Bär, der mehrfache Prostituiertenmörder, der vor drei Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und im selben Gefängnis einsaß, war nicht in diesem Trakt untergebracht – noch nicht.
Der Mann, der nun hereingebracht wurde, war Noras Unterlagen zufolge siebenundvierzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich jünger. Das mochte auch daran liegen, dass er Zivilkleidung trug. Zu einer hellen, engen Hose mit braunem Gürtel hatte er ein Karohemd gewählt, einen blauen Cardigan und Lederslipper. In seinem abgestimmten Outfit schien er der Internetseite eines Herrenausstatters entsprungen zu sein.
Nora machte sich einmal mehr bewusst, dass Sicherungsverwahrte ihre Strafe verbüßt hatten, dass sie im Rahmen ihrer Unterbringung gewisse Freiheiten genossen, zu denen auch die Wahl der Garderobe gehörte, sofern sie über das nötige Kleingeld verfügten. Dieser Mann hatte es offensichtlich.
Mit einem offenen Lächeln kam er auf Nora zu und streckte ihr die Hand zur Begrüßung entgegen. Seine Nägel waren gepflegt, die Haut beinahe falten- und fleckenlos. Keine Hand, die in ihrem Leben jemals schwere Arbeit verrichtet hatte.
»Herr Lefeber, mein Name ist …«
»Nora Winter von der hessischen Polizei.« Eine seltsam hohe Stimme, wie die eines Halbwüchsigen. Er musterte Nora mit seinen leuchtend grünen Augen.
»Vom Zentralen Psychologischen Dienst der hessischen Polizei, genauer gesagt.«
Lefeber lächelte sie stumm an. Sie nahmen Platz. Nora zog erneut ihren Pferdeschwanz straff.
»Sie wissen, warum ich hier bin?«
»Sie sollen mich begutachten. Eine Sozialprognose erstellen.«
»Das ist richtig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, wie sie bei Ihnen vorliegt, für gesetzwidrig. Darum werden Sie und zwei weitere Männer aus dieser JVA demnächst entlassen.«
Lefeber schlug die Beine übereinander. »Frau Winter, wissen Sie, wie viele Gutachten seit 1992 über mich erstellt wurden? Es gibt mehrere Ordner voll davon. Verzeihen Sie die einfältige Frage, aber wenn
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